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Die Türen seines Gesichts

Die Türen seines Gesichts

Titel: Die Türen seines Gesichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Zelazny
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waren, seufzte sie tief und sprang von ihrem Podest.
    „Noch nicht“, warnte er, „der Wachmann kommt in dreiundneunzig Sekunden durch.“
    Sie hatte genügend Geistesgegenwart, um ihren Schrei zu ersticken, eine zarte Hand dafür und siebenundachtzig Sekunden, in denen sie wieder die Klagende Hekuba werden konnte. Das tat sie, und er bewunderte die nächsten siebenundachtzig Sekunden ihre zarte Hand und ihre Geistesgegenwart.
    Der Wachmann kam, schritt durch den Saal und verschwand wieder, und seine Taschenlampe und sein Bart huschten wie ein Irrlicht durch die Düsternis.
    „Du liebe Güte!“ stieß sie hervor. „Ich hätte gedacht, ich wäre allein!“
    „Durchaus richtig“, erwiderte er. „Nackt und allein kommen wir in die Verbannung … Inmitten heller Sterne, auf diesem müden Stückchen Asche, ohne Licht, verloren … Oh, verloren …“
    „Thomas Wolfe“, stellte sie fest.
    „Ja“, schmollte er. „Gehen wir zum Abendessen.“
    „Abendessen?“ fragte sie und hob die Brauen. „Wo? Ich habe mir ein paar K-Rationen mitgebracht, die ich in einem Heeresüberschuß-Laden …“
    „Sie haben die typische Einstellung eines Kurzzeitlers“, erwiderte er. „Ich glaube, heute stand Huhn auf der Karte. Folgen Sie mir!“
    Sie gingen durch die T’ang-Dynastie zur Treppe.
    „Andere finden es hier vielleicht kühl, wenn geschlossen ist“, begann er, „aber ich nehme an, Sie haben die Technik der Atemkontrolle perfekt gelernt?“
    „Ja, das habe ich“, erwiderte sie, „mein Verlobter war nicht bloß ein Zen-Typ. Er folgte dem rauheren Pfad von Lhasa. Er hat einmal eine moderne Version des Ramayana geschrieben, voll raffinierter Anspielungen und Ratschläge für die moderne Gesellschaft.“
    „Und was hielt die moderne Gesellschaft davon?“
    „Eine traurige Geschichte! Die moderne Gesellschaft hat es nie zu Gesicht bekommen. Meine Eltern haben ihm ein Ticket erster Klasse nach Rom gekauft – ohne Rückflug – und dazu Reiseschecks im Wert von ein paar hundert Dollar. Seitdem ist er verschwunden. Deshalb habe ich mich aus der Welt zurückgezogen.“
    „Ihre Eltern hielten also nichts von Kunst?“
    „Nein, und ich glaube, daß sie ihn auch bedroht haben.“
    Er nickte.
    „So geht die Gesellschaft mit Genies um. Auch ich habe mit meinen schwachen Kräften daran gearbeitet, sie zu verbessern, aber nur Undank für meine Mühe geerntet.“
    „Wirklich?“
    „Ja. Wenn wir auf dem Rückweg in der Moderne vorbeischauen, können Sie meinen Gefallenen Achilles sehen.“
    Ein ganz trockenes Kichern ließ sie zusammenzucken.
    „Ist da jemand?“ erkundigte er sich vorsichtig.
    Keine Antwort. Sie standen im Klassischen Rom, und die steinernen Senatoren waren stumm.
    „ Jemand hat gelacht“, sagte sie.
    „Wir sind nicht allein“, stellte er fest und zuckte die Achseln. „Solche Anzeichen hat es schon mehrere gegeben, aber wer auch immer sie sind, sie sind so geschwätzig wie Trappisten – und das ist gut.“
    „Bedenket, daß ihr nur Stein seid“, rief er vergnügt, und dann setzten sie ihren Weg zur Kantine fort.
     
    Eines Abends saßen sie gemeinsam in der Modernen Periode beim Abendessen.
    „Hatten Sie einen Namen – im Leben?“ fragte er.
    „Gloria“, flüsterte sie. „Und der Ihre?“
    „Smith, Jay.“
    „Was hat Sie dazu veranlaßt, eine Statue zu werden, Smith – wenn das nicht indiskret ist?“
    „Gar nicht“, sagte er und lächelte so, daß man es nicht sehen konnte. „Manche werden zur Obskurität geboren, andere erreichen sie nur durch gezieltes Vorgehen. Ich gehöre zu den letzteren. Da ich als Künstler ein Versager und außerdem pleite war, beschloß ich, mein eigenes Denkmal zu werden. Hier drinnen ist es warm, und unten gibt es Essen. Die Umgebung ist sympathisch, und man wird mich nie entdecken, weil sich nie jemand etwas ansieht, das in Museen herumsteht.“
    „Niemand?“
    „Keine Menschenseele, wie Sie festgestellt haben müssen. Kinder kommen gegen ihren Willen hierher, junge Leute, um miteinander zu flirten, und bis man sich genügend Sensibilität entwickelt hat, um sich etwas anzusehen“ – er dozierte dies bitter –, „ist man entweder zu kurzsichtig oder leidet unter Halluzinationen. Im ersteren Falle würde der Betreffende es nicht bemerken, im letzteren nicht darüber reden. Die Parade zieht vorbei.“
    „Welchen Sinn haben dann Museen?“
    „Mein liebes Mädchen! Daß die ehemalige Verlobte eines wahren Künstlers so redet, läßt erkennen, daß

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