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Die Türen seines Gesichts

Die Türen seines Gesichts

Titel: Die Türen seines Gesichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Zelazny
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geheiligte Ohren vermutlich brannten.
    Aber er hielt es nicht für angebracht, mich totzuschlagen, also beschloß ich, für heute aufzuhören und mich schlafen zu legen.
    Ich muß ein paar Stunden geschlafen haben, als Braxa mit ein paar winzigen Lampen mein Zimmer betrat. Sie weckte mich, indem sie an meinem Pyjamaärmel zupfte.
    Ich sagte nur „Hallo“. Wenn ich jetzt zurückdenke, gibt es auch nicht viel, was ich sonst hätte sagen können.
    „Hallo.“
    „Ich bin gekommen“, sagte sie, „um das Gedicht zu hören.“
    „Welches Gedicht?“
    „Das Ihre.“
    „Oh.“
    Ich gähnte, setzte mich auf und tat das, was die Leute für gewöhnlich tun, wenn man sie mitten in der Nacht weckt, um Gedichte zu lesen.
    „Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ist das nicht eine etwas ungewöhnliche Stunde?“
    „Mir macht das nichts aus“, sagte sie.
    Eines Tages werde ich einen Artikel für das „Journal of Semantics“ schreiben und ihn „Der Tonfall, ein ungeeignetes Mittel, um Ironie auszudrücken“ nennen.
    Aber ich war nun einmal wach. Also griff ich nach meinem Morgenrock.
    „Was für ein Tier ist das?“ fragte sie und deutete auf den seidenen Drachen an meinem Revers.
    „Ein mystisches“, erwiderte ich. „Aber hören Sie, es ist spät. Und ich bin müde. Ich habe morgen viel zu tun. Und M’Cwyie könnte auf falsche Gedanken kommen, wenn sie erführe, daß Sie hier waren.“
    „Falsche Gedanken?“
    „Sie wissen verdammt gut, was ich meine!“ Das war das erste Mal, daß ich Gelegenheit hatte, auf marsianisch zu fluchen, und es mißlang.
    „Nein“, sagte sie. „Das weiß ich nicht.“
    Sie schien verstört, wie ein kleines Hündchen, das man ausschimpft, ohne daß es weiß, was es falsch gemacht hat.
    Ich wurde weich. Ihr roter Umhang paßte so makellos zu ihrem Haar und ihren Lippen, und diese Lippen zitterten jetzt.
    „Schon gut. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Auf meiner Welt gibt es gewisse – äh – Gepflogenheiten, hinsichtlich Angehöriger verschiedener Geschlechter, die allein zusammen in Schlafzimmern sind und nicht durch Heirat verbunden … äh, ich meine, begreifen Sie, was ich meine?“
    „Nein.“
    Sie waren Jade, ihre Augen.
    „Nun, es ist so etwas wie … nun, Sex eben. Das ist es.“
    Ein Licht flammte in diesen Jadelampen auf.
    „Oh, Sie meinen, wenn man Kinder zeugt?“
    „Ja. Das ist es. Genau das.“
    Sie lachte. Es war das erste Mal, daß ich in Tirellian Gelächter hörte. Es klang, als wenn ein Geiger seine Saiten mit dem Bogen anschlägt, in einzelnen kleinen Stufen. Es klang nicht sehr angenehm, besonders, weil sie zu lange lachte.
    Als sie schließlich mit Lachen fertig war, trat sie näher zu mir. „Jetzt erinnere ich mich“, sagte sie. „Wir haben auch solche Regeln. Vor einem halben Zeitraum, als ich ein Kind war, hatten wir solche Regeln. Aber“, sie sah aus, als wollte sie gleich wieder loslachen, „jetzt ist das nicht mehr nötig.“
    Mein Gehirn arbeitete wie ein Computer auf Hochtouren. Ein halber Zeitraum! Halber Zeitraum – Zeitraum – Zeitraum! Nein! Ja!
    Ein halber Zeitraum waren grob gerechnet zweihundertdreiundvierzig Jahre!
    Zeit genug, die 2224 Tänze des Locar zu lernen.
    Zeit genug, alt zu werden, wenn man ein Mensch war.
    Ein Mensch wie auf der Erde, meine ich.
    Ich sah sie wieder an, bleich wie die weiße Dame in einem Schachspiel aus Elfenbein.
    Sie war ein Mensch, ich war bereit, meine Seele dafür zu wetten – lebendig, normal, gesund. Darauf würde ich mein Leben setzen. Frau …
    Aber sie war zweieinhalb Jahrhunderte alt, und das machte M’Cwyie zu Methusalems Großmutter. Es schmeichelte mir, daran zu denken, daß sie mir wiederholt Komplimente über mein Geschick als Sprachkundler, als Dichter, gemacht hatte. Diese überlegenen Wesen!
    Aber was bedeutete dieses „Jetzt sind sie nicht mehr nötig“? Warum die Hysterie? Warum all diese eigenartigen Blicke, die M’Cwyie mir immer zugeworfen hatte?
    Ich wußte plötzlich, daß ich hier im Begriff war, etwas Wichtigem auf die Spur zu kommen.
    „Sagen Sie“, fragte ich mit ganz beiläufiger Stimme, „hatte das etwas mit der, Pest, die nicht tötet’ zu tun, von der Tamur geschrieben hat?“
    „Ja“, erwiderte sie, „die Kinder, die nach dem Regen geboren wurden, konnten selbst keine Kinder haben, und …“
    „Und was?“ Ich lehnte mich vor, lauschte gespannt.
    „Und die Männer sehnten sich nicht danach, welche zu bekommen.“
    Ich sackte auf mein Bett zurück.

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