Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Türen seines Gesichts

Die Türen seines Gesichts

Titel: Die Türen seines Gesichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Zelazny
Vom Netzwerk:
langsam umzukippen.
    Ich hörte das erste Grollen des Donners fast eine halbe Stunde nach dem Mittagessen, also wußte ich, daß es nicht mein Magen war.
    Trotz all meiner Augen trat ich ans Fenster, um das Unwetter zu sehen. Es war wie ein großer grauer schaumiger Gletscher, der den Himmel durchpflügte.
    Ein Wind hatte sich jetzt erhoben, denn ich sah, wie die Bäume plötzlich zu zittern begannen und sich beugten. Das würde unser erster Sturm der Saison werden. Der türkisrote Himmel wich davor zurück, und schließlich überdeckten die Wolken sogar die Sonne. Jetzt klatschten die ersten Tropfen gegen das Fenster, und dann prasselte der Regen in Strömen daran herunter.
    Die höchsten Spitzen von Saint-Stephen kratzten den Bauch der riesigen Wolke, und wir wurden mit Funken übersät. Kurz darauf stieß sie mit einem schrecklichen Krachen gegen etwas, und die Bächlein auf den Quarzscheiben wurden zu reißenden Flüssen.
    Ich ging in meine Galerie zurück, um mir grinsend Bilder von Leuten anzusehen, die Unterschlupf suchten. Ein paar clevere hatten Regenschirme und Mäntel. Die anderen rannten wie der Teufel. Die Leute achten nie auf die Wetterberichte; das gehört wahrscheinlich zur Psyche des Menschen und rührt von dem alten Mißtrauen gegenüber den Schamanen her. Man will einfach, daß sie unrecht haben. Und wenn sie recht haben, dann sind sie irgendwie überlegen, was noch schlimmer ist, als wenn man naß wird.
    Dann fiel mir ein, daß ich meinen Regenmantel, meinen Schirm und meine Überschuhe vergessen hatte. Aber es war wirklich ein herrlicher Morgen gewesen, und die Wetterzentrale hätte sich ja immerhin irren können …
    Na schön. Ich zündete mir wieder eine Zigarette an und lehnte mich in meinem großen Sessel zurück. Kein Sturm auf der ganzen Welt konnte meine Augen vom Himmel fegen.
    Ich schaltete die Filter ein, saß da und sah zu, wie der Regen an mir vorbeiströmte.
     
    Fünf Stunden später war es immer noch dunkel; der Regen rauschte und der Donner grollte.
    Ich hatte gehofft, daß es bis Dienstschluß aufhören würde, aber als Chuck Fuller kam, hatte sich das Bild noch nicht verändert. Chuck war meine Ablösung für heute abend.
    Er setzte sich neben meinen Arbeitstisch.
    „Du kommst früh“, sagte ich. „Die fangen doch erst in einer Stunde an, dich zu bezahlen.“
    „Viel zu naß, um was anderes zu tun als dazusitzen. Und ich sitz’ lieber hier als zu Hause.“
    „Undichtes Dach?“
    Er schüttelte den Kopf.
    „Schwiegermutter. Schon wieder zu Besuch.“
    Ich nickte.
    „Das ist einer der Nachteile, wenn eine Welt so klein ist.“
    Er verschränkte die Hände hinter dem Nacken, lehnte sich im Stuhl zurück, starrte zum Fenster hinüber. Ich spürte förmlich, daß einer seiner Ausbrüche bevorstand.
    „Weißt du, wie alt ich bin?“ fragte er nach einer Weile.
    „Nein“, sagte ich, und das war eine Lüge. Er war neunundzwanzig.
    „Siebenundzwanzig“, sagte er mir, „bald achtundzwanzig. Weißt du, wo ich gewesen bin?“
    „Nein.“
    „Nirgends! Das ist es ja! Ich bin auf dieser popeligen Welt geboren und aufgewachsen! Bin hier verheiratet und beschäftigt und hab’ diese Kugel noch nie verlassen! Als ich jünger war, konnte ich es mir nicht leisten. Jetzt habe ich Familie.“ Er lehnte sich wieder vor und stützte die Ellbogen auf die Knie, wie ein Junge. Chuck würde noch mit fünfzig Jahren wie ein Junge aussehen. Blondes kurzgeschorenes Haar, Boxernase, meistens gebräunt. Vielleicht würde er sich als Fünfzigjähriger auch wie ein Kind benehmen. Ich werd’s nie erfahren.
    Ich sagte nichts, weil ich nichts zu sagen hatte.
    Er schwieg ebenfalls eine Weile.
    Und dann sagte er: „Du bist ’rumgekommen.“
    Und nach einer Minute fuhr er fort: „Du bist auf der Erde geboren. Der Erde! Und du hast auch eine Menge anderer Welten besucht, ehe ich auch nur zur Welt gekommen war. Für mich ist die Erde nur ein Name. Und Bilder. Und all die anderen Planeten sind für mich auch nur Bilder, Namen …“
    Ich wartete, und nachdem ich des Wartens müde geworden war, sagte ich: „Miniver Cheevy, Kind des Zorns …“
    „Was soll das bedeuten?“
    „Das ist der Anfang eines uralten Gedichts. Jetzt ist es uralt, aber als ich noch ein Junge war, war es das nicht. Uralt. Ich hatte einmal Freunde, Verwandte, sogar Schwiegereltern. Und jetzt sind die nicht mal mehr Knochen, sie sind Staub. Wirklicher Staub, nicht nur in der Redensart. Mir scheinen die letzten fünfzehn Jahre

Weitere Kostenlose Bücher