Die Tulpe des Bösen
Mauer ab der Bruchstelle einfach nur um sechzig oder mehr Klafter nach hinten versetzt war. Dennoch ergab das Ganze keinen Sinn, hatte die Mauer an dieser Seite von außen doch durchgehend gerade ausgesehen.
Katoen war kurz davor, an seinem Verstand zu zweifeln. Er schloß für einen Moment die Augen und sah sich, als er sie wieder öffnete, einem verknöcherten kleinen Mann gegenüber, der so schmutzig war, daß es dem teuren Samt, aus dem sein Wams gefertigt war, hohnzusprechen schien. Er trug einen Hut, dessen einst wohl steife Krempe schlapp herunterhing, so daß das Regenwasser ungehindert auf die schmalen, leicht vorgebeugten Schultern des Mannes tropfen konnte. Die zahlreichen Runzeln in dem länglichen Gesicht und der graue Kinnbart ließen Katoen schlußfolgern, daß sein Gegenüber die Sechzig, vielleicht auch die Siebzig überschritten hatte. Die kleinen, tiefliegenden Augen blickten ihn jedoch hellwach und mit deutlich erkennbarem Mißtrauen an.
»Wer seid Ihr? Was wollt Ihr? Warum hat Ebbo Euch eingelassen?« fragte der Alte mit knarziger Stimme.
»Ebbo?« fragte Katoen gedehnt. »Was für ein seltsamer Name. Heißt so der Mann oder der Hund?«
»Der Mann natürlich«, schnarrte der Alte, und seine Ungehaltenheit nahm spürbar zu.
»Dann heißt er so seltsam, wie er spricht.«
»Ebbo kommt aus dem Brandenburgischen, daher sein Akzent.«
»Und die feuchte Aussprache?«
»Er hatte als Soldat bei der Ostindischen Kompanie unterschrieben, und irgendein Wilder hätte ihm beinahe mit der Kriegsaxt den Schädel gespalten. Es hieß, Ebbo habe daraufhin seinem Gegner bei lebendigem Leib den Kopf abgerissen. Mit ihm ist nicht zu spaßen.« Der Alte grinste, so als sei es ihm durchaus recht, wenn sein Besucher das als Drohung auffaßte. »Ich frage Euch noch einmal, wer Ihr seid und was Ihr hier wollt!«
Katoen nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Nicolaas van der Zyl, der Amtsrichter von Amsterdam, schickt mich zu Euch.«
Schlagartig hellte sich die verkniffene Miene des Alten auf. »Der Amtsrichter, wirklich? Aber warum sagt Ihr das nicht gleich, Mijnheer Katoen? Es freut mich, daß Ihr endlich den Weg zu mir gefunden habt. Ich bin Willem van Dorp. Kommt doch mit mir ins Haus, Ihr werdet ja ganz naß.«
»Das bin ich längst.«
»Jaja, Ihr seid sogar stehengeblieben, um meine Tulpen zu bewundern. Ihr habt eben ein Auge für das Schöne, selbst bei schlechtem Wetter.«
»Offen gestanden galt meine Aufmerksamkeit mehr Eurer Umfassungsmauer. Da scheint mir etwas nicht zu stimmen. Dort, wo sie plötzlich so weit nach hinten versetzt ist. Seht Ihr, was ich meine? Entweder meine Augen trügen mich oder mein Verstand.«
»Weder noch.« Van Dorp stieß einen seltsamen Laut aus, der entfernt an das Gackern eines Huhns erinnerte und wohl seine Art zu lachen war. »Und wenn Ihr Euch doch für eins von beiden entscheiden müßt, so traut Eurem Verstand. Kommt einmal hierher, dann versteht Ihr es!«
Er ging ein paar Schritte auf einem schmalen Pfad, sichtlich darauf bedacht, die Tulpen in den Beeten links und rechts nicht mit seinen erdverkrusteten Stiefeln zu berühren. Katoen folgte ihm, ebenso vorsichtig, was van Dorp nicht davon abhielt, ihn wiederholt zur Achtsamkeit zu ermahnen. Rechts von blau-roten Tulpen flankiert und links von solchen, deren Blütenblätter fast golden schimmerten, stand Katoen schließlich hinter dem Tulpenzüchter und folgte mit dem Blick dessen ausgestrecktem Arm.
»Jetzt müßtet Ihr die Spiegel, denen wir die Illusion verdanken, erkennen können«, sagte van Dorp.
Und so war es. Katoen sah hölzerne Gestelle, an denen große Spiegel befestigt waren. Überall auf dem Anwesen mußten sie stehen, und ein Spiegel warf sein Bild in den nächsten. So entstand der Eindruck einer viel größeren Fläche. Das mußte ein kleines Vermögen gekostet haben.
»Wozu ist das gut?« fragte Katoen. »Wachsen Eure Tulpen so besser?«
»Das leider nicht. Aber ich sehe mehr Tulpen.«
»Noch mehr, als Ihr ohnehin schon besitzt?«
»Ganz recht.«
»Aber Ihr habt unzählige Beete. Warum wollt Ihr Euch einbilden, noch mehr zu besitzen?«
»Es geht nicht um den Besitz, sondern um den Anblick. Tulpen sind für mich das Schönste, das Befriedigendste auf dieser Welt! Ihre Schönheit übertrifft die jeder Frau und ihre Treue, wenn man sie gut behandelt, die eines jeden Menschen. Zudem ist man nicht, wie bei den Frauen, an eine gebunden, sondern kann viele Arten von Schönheit und Pracht genießen
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