Die Tulpe des Bösen
sich um und musterte die Vorübergehenden, aber niemand ließ die Maske des harmlosen Passanten fallen. Er setzte seinen bisherigen Weg, der ihn zum Dam geführt hätte, nicht fort. Hätte er das getan, hätte er im Rathaus zwar Hilfe gefunden, aber dort hätte sich der Verfolger kaum zu erkennen gegeben. Also ging er in Richtung Singel und überlegte, wie er dort eine Falle stellen konnte. Mittlerweile hatte er sich entschieden, von nur einem Verfolger auszugehen. Eine ganze Bande hätte ihm auffallen müssen – das hoffte er zumindest.
Der Singel war einst ein Festungskanal gewesen, Teil der Verteidigungsanlagen, mit denen Amsterdam seine Bürger und seinen Reichtum vor äußeren Feinden schützte. An der Innenseite jenes Kanals war die Stadtmauer verlaufen, doch die immer weiter wachsende Stadt war längst über den Singel hinausgegangen, die Mauern waren schon vor einem Dreivierteljahrhundert abgerissen worden, und jetzt reihte sich dort Haus an Haus.
Katoen hielt auf die Stelle zu, wo die Oude Lelie Straat den Singel kreuzte und die breite Torensluis-Brücke die Gracht überspannte. Wo die Brücke das diesseitige Ufer berührte, erhob sich der gewaltige Rooden-Poorts-Turm. Vorrangig diente er als Militärgefängnis, aber die Wachen lieferten auch Betrunkene aus der Umgegend zur Ausnüchterung dort ein. Ein guter Ort, um sich einem Verfolger zu stellen, dachte Katoen. Im Notfall konnte er die Gefängnisaufseher zu Hilfe rufen.
An den Rändern der Brücke und auf dem Platz davor hatten Händler ihre Marktstände aufgebaut. An einem nahe gelegenen Kai wurden Schiffe entladen, deren Waren auf dem Brückenmarkt frisch zum Verkauf angeboten wurden. In dem Getümmel von Händlern, Schauerleuten und Passanten konnte man sich zwar gut verbergen, aber Katoen hatte beschlossen, den Spieß umzudrehen: Ein Verfolger mußte ihm hier dicht auf den Fersen bleiben, wollte er ihn nicht aus den Augen verlieren, und das wollte er ausnutzen, um dem Unbekannten, der für ihn bisher nicht mehr als eine bloße Ahnung war, eine Falle zu stellen.
Als er an einem Tulpenstand vorbeikam, suchten seine Augen wie von selbst nach einer schwarzen Tulpe mit blutroten Tropfen, aber der gichtgekrümmte Händler hatte nur helle, leuchtende Blumen im Angebot. Katoen beschleunigte seine Schritte und ging die glitschigen Stufen hinunter zum Kai, wo er geschickt zwischen aufgetürmten Kisten und Fässern hindurchlief. Vor ihm tauchte ein fast mannshoher Stapel breiter Kisten auf, genau das, wonach er suchte. Mit einer schnellen Drehung kauerte er sich hinter die Kisten und zog seinen Dolch. Reglos verharrte er und lauschte.
Schnelle, seltsam leise Schritte näherten sich. Er hatte sich also nicht getäuscht. Da war jemand hinter ihm her!
Nun waren die Schritte ganz nahe, hatten den Kistenstapel beinahe erreicht. Katoen streckte ein Bein aus und spürte, wie etwas dagegenstieß. Der Verfolger stolperte, rutschte auf dem nassen Stein aus und schlug der Länge nach hin. Eine Sekunde später hatte Katoen sich auch schon auf ihn geschwungen und hielt in der rechten Hand den Dolch, bereit, jederzeit zuzustoßen.
Aber das tat er nicht. Statt dessen ließ er, erstaunt und erleichtert zugleich, die Rechte mit der Waffe sinken. Unter ihm lag eine kleine, dünne Gestalt, ein Kind, das in einem schlichten Wams und einer ebenso schlichten Hose steckte, beides mehrfach geflickt. Nur zu gut kannte er diese Kleider, hatte er selbst doch früher ähnliche getragen; es waren die Kleider von Waisenkindern.
Der schmächtige Junge, den Jaepke Dircks ›Schlangenkind‹ genannt und den der Kuppler für seine schmutzigen Geschäfte mißbraucht hatte, sah ihn ängstlich an. Rasch steckte Katoen den Dolch zurück in die Scheide und gab den Jungen frei.
»Felix?« Er nannte das Kind bei dem Namen, den er selbst ihm gegeben hatte, weil er keinen anderen kannte. »Was tust du hier?«
»Ich bin Euch gefolgt«, antwortete der Junge mit den fast mädchenhaft geschwungenen Lippen nach einigem Zögern leise.
»Das habe ich wohl gemerkt. Wie lange schon?«
»Seit heute morgen.«
»Und gestern?«
Verwirrt blickte der Junge ihn an, und Katoen stellte zu seinem Befremden fest, daß Felix’ Augen schwarz waren. Zumindest waren sie derart dunkel, daß er sie nicht anders hätte beschreiben können. Im Waisenhaus hatte man den Jungen gründlich gewaschen, sein Haar und seine Nägel geschnitten und ihn in die zwar abgetragenen, aber sauberen Kleider gesteckt, doch das
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