Die Tulpe des Bösen
an einem der Halsgiebelhäuser vorbei, durch die der Architekt Philip Vingboons zu Ehren gekommen war. Dieses hatte er im Auftrag des Kaufmanns Pieter Janszoon Sweelinck errichtet, Sohn des Komponisten Jan Pieterszoon Sweelinck. Katoen mußte an den Dienstagabend denken, die Gesellschaft bei Nicolaas van der Zyl und Catrijn, die erst die Gäste mit ihrem Virginalspiel und später ihn mit ihrem verführerischen Körper betört hatte.
Seltsam, daß er sie immer wieder mit Anna verglich, wo die beiden doch so unterschiedlich waren. Die Schwester des Amtsrichters verkehrte in den besten Kreisen und war es gewöhnt, daß hochverdiente Herren nur auf einen Wink von ihr warteten, um ihr einen Gefallen zu erweisen. Die – wie er nun wußte – angenommene Tochter des Tulpenhassers dagegen erschien still und verschlossen, und ihr Dasein war ein täglicher Kampf gegen die Armut.
Bei genauerer Betrachtung aber erschienen ihm die beiden doch nicht ganz so verschieden. Beide hatten sie einen starken Willen, und jede versuchte auf ihre Weise, ihre Ziele zu erreichen. Und zu beiden, das mußte er sich eingestehen, fühlte er sich stark hingezogen.
Über den Dam gelangten sie zum Singel, wo sie sich im Schatten des Rooden-Poorts-Turms voneinander verabschiedeten.
»Und ich treffe Euch morgen bei Eurem Ziehvater in der Wohnung an?« vergewisserte er sich.
»Glaubt Ihr, ich würde ihn im Stich lassen, nach all den Jahren?«
»Nein, Anna, das glaube ich nicht.«
»Was soll dann die Frage?«
»Nun, Ihr könntet auf den Gedanken kommen, zu verschwinden und Euren Ziehvater mitzunehmen.«
»Und warum sollte ich das tun?«
»Ich weiß es nicht«, seufzte er. »Aber da ich Eure Geschichte noch nicht zur Gänze kenne, muß ich alles für möglich halten.«
Plötzlich lächelte Anna, und es stand ihr gut zu Gesicht. »Gebt acht, Jeremias, daß Euer Beruf nicht Euren Charakter verdirbt. Ständiges Mißtrauen kann einen Menschen von innen her zerfressen.«
Sie schien aus Erfahrung zu sprechen, und ihr Lächeln war nicht heiter, sondern tiefgründig. Vielleicht hätte er nachfragen sollen, wie sie zu dieser Erkenntnis gelangt war, aber im Augenblick beschäftigte ihn viel mehr, daß sie ihn zum ersten Mal mit seinem Vornamen angesprochen hatte.
»Ihr trefft mich morgen bei meinem Vater an, aber erst gegen Abend, zur sechsten Stunde. Ich habe aushilfsweise eine neue Anstellung als Näherin gefunden und muß morgen Geld verdienen.«
Anna ging über die Torensluis-Brücke davon. Er blickte ihr nach, bis ihre schlanke Gestalt mit den dunklen Umrissen der Häuser in der Oude Lelie Straat verschmolz, und hoffte, daß sie ein reines Gewissen hatte, welch Geheimnis auch immer sie hüten mochte.
Am Eingangstor des Gefängnisturmes wurde er bei der müde dreinblickenden Wache vorstellig. Der Mann rief den Wachhabenden, einen noch sehr jungen, milchgesichtigen Offizier, der sich als Leutnant Soeteman vorstellte und seiner Aufregung darüber, den Tulpenmörder gefaßt zu haben, kaum Herr wurde.
»Erst seit Anfang des Monats versehe ich hier meinen Dienst, und dann so etwas«, stammelte er. »Ich hoffe, es war richtig, Euch gleich zu unterrichten, Mijnheer Katoen.«
»Selbstverständlich, alles andere hätte ich Euch sogar übelgenommen«, versicherte Katoen zur Erleichterung des Wachhabenden. »Dem Profos habt Ihr nicht Bescheid gegeben?«
»Nein, der schläft schon und hat angeordnet, daß er nur geweckt werden darf, wenn es unerläßlich ist.« Leutnant Soeteman brachte seinen Mund nahe an Katoens rechtes Ohr und raunte: »Ich glaube, er will mich auf die Probe stellen und sehen, ob ich allein zurechtkomme. Weil ich noch so jung bin, wißt Ihr?«
Katoen setzte eine verständnisvolle Miene auf. »Schon möglich. Könnte ich den Tulpenmörder jetzt sehen?«
»Aber ja doch, folgt mir bitte!«
Die meisten der Gefängniszellen, in denen Angehörige des Militärs einsaßen, lagen nicht im Turm selbst, sondern im Gemäuer der Brücke. Der Wachhabende führte Katoen aber in den Turm, in dem es über der Wohnung des Profos, des Gefängnisaufsehers, zwei große Ausnüchterungszellen gab, eine für Männer und eine für Frauen. Die Wachen, denen sie auf ihrem Weg begegneten, blickten ihnen erwartungsvoll entgegen, und Katoen begann zu ahnen, daß hier etwas nicht stimmte.
Die Ausnüchterungszellen lagen dicht am Wasser. Die Luft war klamm, und Katoen hörte ein ständiges Plätschern und Gurgeln, das nur gelegentlich vom Schnarchen eines
Weitere Kostenlose Bücher