Die Tulpe des Bösen
gar nicht. Sie ist doch prächtig zugeschnappt.«
»Die Männer, die ich verdächtige, gehören zu den einflußreichsten der Stadt. Warum solltet Ihr mir mehr vertrauen als ihnen?«
Katoen nahm einen Schluck von dem Dünnbier. Es war schal. »Mit dem Vertrauen ist das so eine Sache, Anna. Wenn niemand damit anfängt, kommt es niemals zustande.«
Sie nickte. »Da habt Ihr wohl recht. Aber ich weiß ohnehin keine Namen, sondern kann nur sagen, daß die Mörder meiner Eltern Verbindungen zur Ostindischen Kompanie haben. Ich nehme an, daß einige von ihnen – oder sogar alle – zu den ›Verehrern der Tulpe‹ gehören. Oder gehörten, denn einige dürften mittlerweile gestorben sein.«
Das war eine Eröffnung, die Katoen fürs erste sprachlos machte. Die ›Verehrer der Tulpe‹! Da erklärte Anna kurzerhand einige der bedeutendsten Bürger Amsterdams zu Mördern! Angestrengt suchte er nach den richtigen Worten für eine Erwiderung.
Noch bevor sie ihm einfielen, hallte Lärm durchs Haus: ein abgehacktes, sich mehrmals wiederholendes Geräusch. Erst beim zweiten Hinhören kam er darauf, daß es sich um den Türklopfer handelte. Aber Mitternacht war vorüber, wer konnte das zu so später Stunde sein?
Das Pochen des Türklopfers erstarb. Statt dessen waren Stimmen und Schritte zu hören, die Treppe knarrte immer lauter, und schließlich klopfte jemand an seine Wohnungstür.
Er wies Anna an, still zu sein, indem er mahnend den Zeigefinger an die Lippen hob. Dann ging er hinaus in die kleine Diele und zog die Tür hinter sich zu, bevor er fragte: »Wer ist da?«
»Ich bin es, Mijnheer Katoen.«
Die Antwort mochte vage sein, aber er erkannte den stets leicht näselnden Ton seiner Vermieterin und öffnete die Tür. Da stand die Witwe Gerritsen, in einen Schlafrock gehüllt und mit dicken Pantoffeln an den Füßen, was ihre ohnehin schon gedrungene Gestalt noch rundlicher erscheinen ließ. Die grauen Locken, die unter der weißen Nachthaube hervorlugten, ließen sie noch mehr wie den Inbegriff der gutherzigen Großmutter aussehen.
Neben ihr stand ein Junge, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, barfuß und in abgerissenen Kleidern. Katoen sah sofort, daß es ein Straßenjunge war, ein Streuner, der seinen Eltern entweder gleichgültig geworden oder davongelaufen war. Falls er überhaupt noch Eltern hatte und nicht zu denen gehörte, die eigentlich im Waisenhaus hätten leben sollen, es aber aus dem einen oder anderen Grund vorzogen, selbst für sich zu sorgen.
»Das ist er«, sagte Greet Gerritsen zu dem Jungen.
»Ihr seid der Amtsinspektor Katoen?« fragte dieser zögernd.
»Der angesichts der späten Störung sehr erstaunte Amtsinspektor Katoen, ja. Und wer bist du?«
»Der Wachhabende vom Rooden-Poorts-Turm schickt mich. Er sagt, wenn ich mich beeile und Euch schnell benachrichtige, werdet Ihr mich belohnen.«
»So? Sagt er das?« Grinsend kramte Katoen zwei Stüber aus einer Tasche seines Wamses und drückte sie dem Jungen in die Hand. »Und worüber sollst du mich so schnell benachrichtigen?«
»Im Rooden-Poorts-Turm halten sie ihn gefangen«, sprudelte es aus dem Jungen hervor.
»Wen?«
»Na, den Tulpenmörder!«
Das war nun in der Tat eine Überraschung, und im ersten Augenblick meinte Katoen sich verhört zu haben.
»Sie haben den Tulpenmörder gefangen?« fragte er ungläubig. »Bist du dir sicher?«
»Das hat der Wachhabende gesagt. Ihr sollt so schnell wie möglich hinkommen.«
»Da hat er verdammt noch mal recht«, knurrte Katoen und sah, wie die Witwe Gerritsen zusammenzuckte. Rasch fügte er, an sie gewandt, hinzu: »Verzeiht meine Ausdrucksweise, aber solch eine Nachricht zu dieser Stunde kann einen schon durcheinanderbringen.«
Keine zehn Minuten später war er mit Anna Swalmius, die weiterhin mit diesem Namen angesprochen werden wollte, in nordwestlicher Richtung unterwegs. Die Witwe Gerritsen hatte nicht gemerkt, wie sie das Haus verließ. Mit dem Herrenhut auf dem Kopf und dem Rapier an der Seite sah Anna auf den ersten Blick wieder aus wie ein Mann. Noch längst nicht alle Fragen, die Katoen ihr hatte stellen wollen, waren beantwortet, aber das mußte warten. Der Gedanke, daß er in Kürze dem Tulpenmörder gegenüberstehen würde, drängte alles andere in den Hintergrund, selbst die ungeheure Anschuldigung, die Anna gegenüber den ›Verehrern der Tulpe‹ erhoben hatte.
Sie folgten dem Verlauf der Binnenamstel und ihrer kanalisierten Fortsetzung, dem Rokin. Dabei kamen sie
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