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Die Tulpe des Bösen

Die Tulpe des Bösen

Titel: Die Tulpe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
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über keinerlei Schulbildung verfügte. Katoen nahm sich vor, ihn nach Kräften zu fördern und alles dafür zu tun, daß er im Waisenhaus die Erziehung erfuhr, die ihm bislang versagt geblieben war.
    Sie verbrachten den ganzen Nachmittag im Irrgarten, vertilgten süße Eierkuchen und stillten ihren Durst mit eisgekühltem Saft. Als der Abend nahte und sie zurück zum Bootsanleger schlenderten, legte Felix seine kleine Hand in die von Katoen.

K APITEL 19
    Die Nacht des Mörders
    M ONTAG , 15. M AI 1671
    E s war ein ganz gewöhnlicher Montagabend. Die Geschäfte hatten ihre Türen geschlossen, und Amsterdam kam zur Ruhe. Längst brannten die Öllampen der neuartigen Straßenbeleuchtung, aber die Sichtverhältnisse waren trotzdem schlecht. Es hatte sich abgekühlt, und den ganzen Tag über waren immer wieder Regenschauer niedergegangen. Jetzt drängte dicker Nebel vom IJ in die Stadt und streckte seine schmutziggrauen Finger in Grachten, Straßen und Gassen, als wolle er jede Lampe einzeln auslöschen.
    Natürlich brannten die Lampen weiter, aber der sich voranwälzende Nebel nahm ihnen die Kraft und degradierte sie zu schummrigen Funzeln. Das hielt die Bürger, die den Tag über hart gearbeitet hatten, nicht davon ab, Wirtshäuser und Musicos aufzusuchen, um sich bei Wein, Bier, Schnaps, Kartenspiel und fröhlichen Liedern zu entspannen. Schließlich kannten sie ihre Stadt und die Wege, die sie nehmen mußten. Also war es trotz des Nebels ein ganz gewöhnlicher Montagabend – scheinbar.
    Jeremias Katoen, der sich in den engen Durchlaß zwischen zwei Häusern am östlichen Ende der Jodenbreestraat, schräg gegenüber dem Wirtshaus Zu den drei Tulpen, drückte, war sich nicht sicher, ob er den Nebel begrüßen oder verfluchen sollte. Das engmaschige Netz, das seine Leute rund um den Versammlungsort der ›Verehrer der Tulpe‹ gezogen hatten, blieb dem Mörder, sollte er an diesem Abend tatsächlich auf ein weiteres Opfer aussein, aufgrund der schlechten Sicht mit höherer Wahrscheinlichkeit verborgen, als es sonst zu erwarten gewesen wäre. Aber auch er konnte den grauen Dunst nutzen, um sich zu verstecken. Die Sicht wurde von Minute zu Minute schlechter, und wer nicht entdeckt werden wollte, konnte sich mit ein wenig Geschick außerhalb der traurigen Lichtflecken bewegen.
    Mit diesem Argument hatte Katoen am Nachmittag, als der Nebel sich über dem Hafen zusammenzuziehen begann, versucht, den Amtsrichter doch noch umzustimmen und dazu zu bewegen, daß er die wöchentliche Versammlung der Tulpenliebhaber an eine andere Örtlichkeit verlegte, wenn er sie schon nicht absagen mochte. Katoen hatte das Rathaus als einen zentralen und halbwegs sicheren Ort vorgeschlagen. Vom Dam aus war der Heimweg für die meisten der ›Verehrer der Tulpe‹ weitaus kürzer als von diesem Teil der Jodenbreestraat aus, der schon recht nahe an der Plantage und den Außenbezirken Amsterdams lag.
    Nicolaas van der Zyl hatte seinen Vorschlag rundweg abgelehnt und Katoen dabei angesehen, als habe er vorgeschlagen, die Stadttore freiwillig für einen Einmarsch der Franzosen zu öffnen. »Wie stellt Ihr Euch das vor, die Versammlung so kurzfristig zu verlegen, Katoen? Was für ein Signal wäre das an die Mitbrüder meiner Vereinigung und an die ganze Stadt? Sollen die einflußreichsten Bürger Amsterdams öffentlich eingestehen, daß sie sich fürchten vor … vor einem sogenannten Tulpenmörder? Dann könnten wir wohl kaum erwarten, daß die braven Amsterdamer noch zu uns aufschauen, wenn der Krieg ausbricht und wir wirklich auf ihr Vertrauen, ihre Loyalität und ihren Mut angewiesen sind. Und dann auch noch ins Rathaus! Also wirklich, Katoen, ich hätte Euch mehr politischen Verstand zugetraut. Natürlich fällen wir an unseren Tulpenabenden so manche Entscheidung, die später in der Sitzung des Magistrats nur noch abgesegnet wird. Aber unser Treffen ins Rathaus zu verlegen hieße, den Magistrat aufs äußerste zu brüskieren. Das würde den Eindruck hervorrufen, wir pfiffen auf den Magistrat und setzten uns an seine Stelle. Nein, nein, nein, das geht ganz und gar nicht!«
    Van der Zyls Ablehnung war so heftig gewesen, daß er Katoen sogar wieder mit dem Familiennamen angeredet hatte, was diesem allerdings gar nicht unangenehm war. Die kürzlich noch gehegte Vorstellung, demnächst mit dem Amtsrichter verschwägert zu sein, lag ihm jetzt so fern wie die Handelsniederlassung Batavia in Niederländisch-Indien. Aber im Augenblick verschwendete er

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