Die Tulpe des Bösen
Das wird Euch ein zusätzlicher Ansporn sein, endlich heimzukommen.«
»So ist es«, antwortete van Rosven und lächelte zurück, aber eigentlich galt sein Lächeln nicht Schuiten, sondern seiner Frau Hiskia. Sie war ihm in den vergangenen zwei Wochen ein großer Trost gewesen, eine Stütze geradezu, und wahrscheinlich würde er auch an diesem Abend erst einschlafen können, wenn er seinen Kopf in ihre Arme gebettet hatte, wenn er das sanfte Streicheln ihrer Hand auf dem Arm spürte und ihre rotblonden Locken sein Gesicht kitzelten. Hiskia und der kleine Jacob, erst zwei Jahre alt und nach dem Großvater benannt, waren sein ganzer Stolz.
Als sie die Brücke hinter sich gelassen hatten, blieb Schuiten stehen und legte van Rosven eine Hand auf die Schulter. »Ihr werdet das Kind schon schaukeln, Paulus. Ihr kommt ganz nach Eurem Vater, das spüre ich. Mit Euch an der Spitze hat die Werft, die Euer Vater aufgebaut hat, noch viele erfolgreiche Jahre vor sich. Ihr werdet es richtig machen, so wie Jacob. Er und ich, wir haben beide unsere Wohnhäuser hier auf die Insel gebaut, nahe bei unseren Werkstätten. Nicht so wie die feinen Pinkel in ihren vornehmen Grachtenvierteln, die unter sich bleiben wollen und dabei die Verbindung zu ihren Arbeitern verlieren und zu der Arbeit, der sie ihren Reichtum verdanken. Fragt Euch immer, was Euer Vater getan hätte, sollten Euch einmal Zweifel überfallen. Und wenn Ihr dann noch eines Rates bedürft, fragt mich! Jederzeit.«
Van Rosven wollte sich für die Ermutigung bedanken, aber das war Schuiten peinlich, und er winkte ab.
»Genug der Worte. Seht zu, daß Ihr nach Hause kommt, Paulus. Ich muß hier nach links, wie Ihr wißt. Euer Weg ist ja auch nicht mehr lang, aber trotzdem, paßt gut auf Euch auf!«
Van Rosven zog seine Rassel hervor. Die Instrumente, die üblicherweise die Nachtwachen benutzten, hatte zuvor im Wirtshaus Zu den drei Tulpen Amtsrichter van der Zyl an die ›Verehrer der Tulpe‹ ausgegeben. »Ich habe ja das hier, um nötigenfalls Hilfe herbeizurufen. Aber ich glaube nicht, daß sich heute nacht etwas Schlimmes ereignet. Bei diesem Wetter könnte der Mörder sein Opfer ja gar nicht erkennen.«
»Hoffen wir es«, sagte Schuiten und wünschte ihm eine gute Nacht.
Paulus van Rosven kannte den Heimweg, selbst im dicksten Nebel, und so kreisten seine Gedanken nicht um die Straße, durch die er ging, vorbei an Werkstätten und Lagerhäusern. Er dachte an den Abend im Wirtshaus, das erste Treffen der ›Verehrer der Tulpe‹, an dem er teilgenommen hatte. Obwohl er die Leidenschaft seines Vaters für die Tulpe nicht teilte, hatte er sich nach einigem Überlegen dazu entschlossen. Schließlich ging es bei den wöchentlichen Treffen längst nicht nur um die Blume, mit der die Niederländer sich in ganz eigenartiger und unerklärlicher Weise verbunden fühlten, sondern auch um die Geschicke Amsterdams und des ganzen Landes. Seine Mutter und seine Geschwister hatten vor allem das Wohlergehen der Werft van Rosven im Sinn gehabt, als sie ihn drängten, den Platz seines Vaters bei den ›Verehrern der Tulpe‹ einzunehmen. Jetzt, nach dem Treffen, wußte er, daß die Verantwortung für das Gemeinwohl den Tulpenfreunden mindestens ebenso am Herzen lag wie die eigenen Interessen.
Diese Erkenntnis stimmte ihn froh, und zugleich erfüllte ihn das, was er über die Bedrohung der Vereinigten Republiken durch Frankreich und dessen Verbündete erfahren hatte, mit Sorge. Die Wahrheit war viel düsterer als das, was in den Zeitungen stand. Zu ahnen, fast schon zu wissen, daß bald wieder die Kanonen donnern, Handelsschiffe geentert und ganze Heringsfangflotten versenkt werden sollten, bedrückte ihn, zumal niemand eine Möglichkeit gesehen hatte, den Konflikt auf friedlichem Weg beizulegen. Den Niederlanden blieb nichts anderes übrig, als ihre Flotte aufzurüsten, ihre Truppen zu mobilisieren, neue Waffen, neues Pulver und neue Munition zu ordern. Das ganze Land schien in einen Nebel eingehüllt, noch dichter als der, der an diesem Abend über Amsterdam lag, und noch wiegten die meisten Menschen sich in trügerischer Sicherheit.
Wenn der große Nebel der Sorglosigkeit sich aber verzog, würden die feindlichen Schiffe auf den Meeren und die feindlichen Soldaten an den Grenzen nur allzu deutlich zu sehen sein. Die ›Verehrer der Tulpe‹ waren übereingekommen, daß es das Beste sei, die Bevölkerung behutsam auf die neue Lage vorzubereiten, so daß mit dem Wissen der Menschen
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