Die Tulpe des Bösen
den sie gekommen waren. Die Sonne stand schon sehr tief, und die meisten Straßen lagen im Abendschatten. Als sie an dem mächtigen Viereck der Handelsbörse entlanggingen, meinte Katoen, im Schatten einer Seitengasse ein Gesicht gesehen zu haben, dessen herbe Züge und vorspringendes Kinn ihm bekannt vorkamen: das Gesicht des Apothekers Pieter Hartig.
Doch er mußte sich getäuscht haben. Denn als er ein zweites Mal hinschaute, war das Gesicht verschwunden.
K APITEL 18
Ein Sonntag in Amsterdam
S ONNTAG , 14. M AI 1671
I n der Nacht hatte es heftig geregnet, und das Pflaster dampfte noch vor Feuchtigkeit, als Katoen am Sonntagmorgen durch die Kalverstraat zum Dam ging. Aber die Wolken verzogen sich eine nach der anderen, während das Läuten der Glocken die Bürger zum Gottesdienst rief, und der Tag des Herrn würde gewiß ein herrlicher werden.
Auf Schritt und Tritt begegnete er fein herausgeputzten Kirchgängern, die ihre weißesten Hauben, ihre neuesten Hüte und ihre glänzendsten Kleider trugen. Auf dem Dam angelangt, teilte sich die Menge. Nach links, am Rathaus vorbei, gingen die Besucher der Nieuwe Kerk. Die anderen lenkten ihre Schritte nach rechts und spazierten ein Stück den Damrak entlang, auf dem es nicht so geschäftig zuging wie an anderen Tagen. Sonntags wurde kein Laden geöffnet, kein Marktstand aufgebaut, kein Wechsel eingelöst und kein Hering gefangen. Vormittags, zur Zeit des Gottesdienstes, blieben sogar die Stadttore geschlossen, damit die Andacht der Gläubigen nicht durch den Lärm An-oder Abreisender gestört wurde. Die Schiffe und Kähne lagen vertäut an den Kais und schaukelten friedlich im Wasser, als wüßten sie, daß ein ruhiger Tag auf sie wartete. Die Menschen, die dem Damrak folgten, wollten zur Oude Kerk. Es gab keine festgelegten Kirchengemeinden in Amsterdam. Jeder ging in den Gottesdienst, der ihm am besten gefiel.
Katoen hatte sich mit Nicolaas van der Zyl und Catrijn an der Nieuwe Kerk verabredet, die mit der Oude Kerk im ständigen Streit darüber lag, die bedeutendste Kirche Amsterdams zu sein. Als er die zahlreichen hohen Herren sah, darunter viele Mitglieder des Magistrats, die sich vor dem Hauptportal der Nieuwe Kerk versammelt hatten, kam er für sich zu dem Schluß, daß sie den geheimen Wettbewerb gewonnen hatte. Sie stand auf dem Dam, direkt neben dem Rathaus, und damit schlug das Herz der Stadt auch in ihr.
Auch Joan Blaeu stand im Kreise seiner Familie vor der Kirche und war in ein Gespräch mit dem Amtsrichter vertieft. Catrijn stand neben ihrem Bruder und schien aufmerksam zuzuhören. Sie trug ein sandfarbenes Kleid und eine passende Haube, die im Licht der an Kraft gewinnenden Sonne fast golden schimmerten.
Unwillkürlich dachte er an den Abend auf Volewijk, daran, wie sie sich einander hingegeben hatten. Vielleicht war es nicht recht, im Angesicht des Gotteshauses solcherlei Gedanken zu haben, aber er konnte nicht anders. Catrijn strahlte etwas aus, das in einem Mann den Wunsch erweckte, sie zu besitzen, sich mit ihr zu vereinigen. Ihre Schönheit, ihr Stolz und ihr Selbstbewußtsein suchten ihresgleichen. Doch er fragte sich, ob sie sich tatsächlich von einem Mann besitzen lassen würde oder ob nicht vielmehr sie die Besitzende war.
Als sie ihm von den Plänen erzählt hatte, die ihr Bruder und sie mit ihm hatten, war dieser Zweifel in ihm erwacht. Seit diesem Moment fühlte er eine innere Distanz zu ihr, die all ihre Schönheit und sein unleugbares Verlangen nach ihren Liebkosungen nicht zu überbrücken vermochten. Er freute sich nicht einmal auf das Wiedersehen; er war nur hergekommen, weil sie es so verabredet hatten.
Üblicherweise ging er zum Gottesdienst in die Zuiderkerk, einfach aus dem Grund, weil sie von seiner Wohnung am Botermarkt aus etwas schneller zu erreichen war. Der Glaube hatte keine große Bedeutung für ihn, er nahm sein Schicksal lieber in die eigenen Hände, als darauf zu vertrauen, daß Gott sich seiner erbarmte. Seit jener Zeit, als das Kind Jeremias tage-und nächtelang vergebens gebetet hatte, daß seine Mutter zurückkehren möge, hielt er nicht mehr viel vom Beten. Aus eigenem Antrieb wäre er nicht oft zur Kirche gegangen, aber in der Regel begleitete er seine Hauswirtin, der er damit einen Gefallen tat, besonders dann, wenn die Nachbarn sie beim gemeinsamen Kirchgang sahen.
Catrijn bemerkte ihn, und ihre Blicke trafen sich. Sie wirkte seltsam kühl, so als bereite das Zusammentreffen auch ihr keine rechte Freude.
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