Die Tulpe des Bösen
auch ihr Vertrauen in die eigenen Kräfte und ihre Entschlossenheit zur Verteidigung wachsen konnten.
Der Nebel über Amsterdam war inzwischen so dicht geworden, daß Paulus van Rosven nichts anderes mehr sah als die Gebäude unmittelbar zur Rechten und zur Linken. Ein schwaches Glimmen, das er weiter vorn ausmachte, stammte wohl von einer der Straßenlaternen, die dieser erfinderische Städtemaler, Jan van der Heyden, ersonnen hatte. Trotzdem wußte er, daß das große, nur umrißhaft erkennbare Gebäude vor ihm sein Ziel war, das Heim der Familie van Rosven. Ein schönes, aber nicht zu protziges Halsgiebelhaus, von dessen oberen Stockwerken aus man einen prächtigen Blick auf den Hafen und die Van-Rosven-Werft hatte.
Abends, nach getaner Arbeit, hatte sein Vater oft oben am Fenster gestanden und zufrieden hinausgeschaut, so als gehöre ihm nicht nur die florierende Werft, sondern ganz Amsterdam.
Paulus van Rosven erschrak, als sich eine Gestalt mit menschlichen Umrissen aus dem Dunst schälte. Ganz starr stand sie da, mitten auf der Straße, als warte sie auf ihn. Wie ein Geist.
Ruckartig blieb er stehen und versuchte, Genaueres zu erkennen, wenigstens die groben Gesichtszüge – falls die Gestalt denn ein Gesicht besaß.
Unsinn, schalt er sich im stillen dafür, daß er, wenn auch nur für einen Augenblick, an ein Gespenst gedacht hatte, eine Wiederkehr seines Vaters aus dem Jenseits. Das gab es nicht, und so etwas auch nur zu denken war eine Sünde. Außerdem war es einfach dumm.
»Ich wünsche Euch einen guten Abend«, sagte er und hörte selbst, daß seine Stimme nicht so fest klang wie sonst. »Kann ich Euch helfen? Findet Ihr den Weg nicht?«
»Ich wollte Euch gerade fragen, ob ich Euch helfen kann, Mijnheer«, entgegnete die Gestalt und setzte sich in Bewegung, kam langsam auf van Rosven zu.
Die Stimme kannte er nicht. Sie klang seltsam dumpf, aber das mochte am Nebel liegen, der nicht nur die Konturen der Menschen und Häuser verschluckte, sondern auch Stimmen und Geräusche.
Erst als die Gestalt unmittelbar vor ihm stand, erkannte van Rosven zu seiner Erleichterung, daß er es mit einem Nachtwächter zu tun hatte. Der große Mann mit dem dunklen Umhang hielt in einer Hand eine Laterne, die allerdings erloschen war. Ganz beruhigt war van Rosven dennoch nicht. Er hatte das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte, sagte sich aber, daß er vielleicht an diesem Abend einfach etwas schreckhafter war, als er sich selbst eingestehen wollte.
»Ist alles in Ordnung, Mijnheer?« fragte der Nachtwächter.
»Ja, danke, aber Ihr scheint Schwierigkeiten mit Eurer Laterne zu haben.«
»Sie will heute einfach nicht brennen, aber bei dem Nebel würde sie ohnehin nicht viel nützen.«
Der Nachtwächter hob die Laterne hoch, als wolle er sie van Rosven zeigen. Und dann bewegte der Mann sich plötzlich rasend schnell, schlug van Rosven die Laterne gegen den Kopf. Die Blechlaterne war nicht sonderlich schwer, aber die Wucht, mit der der Schlag geführt wurde, machte sie doch zu einer gefährlichen Waffe. Als sie van Rosven an der Schläfe traf, schoß ein stechender Schmerz durch seinen Kopf.
Er führte die Hand zur Schläfe und spürte Feuchtigkeit – sein Blut. Und mit einem Mal wußte er, was mit dem Nachtwächter nicht stimmte: Der Mann war allein, die Nachtwächter aber waren grundsätzlich zu zweit unterwegs.
Dieser Mann war ebensowenig ein Nachtwächter, wie er selbst einer war. Nein, dort stand derjenige, der seinen Vater auf dem Gewissen hatte – der Tulpenmörder!
Diese Erkenntnis löste seltsamerweise keine blinde Angst in van Rosven aus. Sein Gehirn arbeitete noch und sagte ihm, daß er schnellstens fliehen mußte, wenn er überleben wollte. Und das wollte er, für Hiskia und den kleinen Jacob.
Der Weg zu seinem Haus, wo er Hilfe gefunden hätte, war durch den Mörder versperrt. Es stand nur wenige Schritte von ihm entfernt, aber im Augenblick hätte es genausogut in einer anderen Stadt oder einem anderen Land stehen können. Wenn es eine Rettung gab, lag sie hinter ihm.
Er wollte kehrtmachen und wegrennen, während der Mörder die Laterne fallen ließ und nach dem Degen an seiner Hüfte griff, aber er stolperte über eine Unebenheit im Straßenpflaster, verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Immerhin gelang es ihm, den Sturz mit beiden Händen abzufangen.
Zunächst wollte er sein Mißgeschick verfluchen, aber dann erkannte er, daß der Sturz ihm vielleicht das Leben gerettet hatte. Der
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