Die Tunnel der Seele
Geist zu treffen, ihn zu berühren, sich mit ihm über die Wissenschaft der Seelen auszutauschen, etwas zu schaffen, das über den Prozess des Lebens und des Sterbens hinaus weiterlebte? Oder sind derartige Wünsche nur eine groteskere Form von Eitelkeit?
Sie starrte in den Kegel des künstlich erzeugten Lichts, der vor ihr auf dem Pfad herumtanzte. Je älter sie wurde, je näher sie dem Tod rückte und je tiefer sie auf ihrer Suche vordrang, desto einsamer wurde sie. Und wenn es etwas gab, das ihr Angst machte, vor dem sich jemand, der Geister gesehen hatte, fürchtete, dann war es der Gedanke, dass eine Seele oder ein Bewusstsein oder eine Lebenskraft, die nach dem Tod weiterlebte, dies allein tun müsste, für immer isoliert, für immer verloren.
Sie war nun schätzungsweise etwa zwei Kilometer vom Herrenhaus entfernt. Langsam setzte die Erschöpfung ein. Das war eines der Dinge, die sie am meisten an ihrer Krankheit hasste. Ihre Kräfte schwanden, gingen von diesem Leben in das nächste über.
Sie legte eine Pause ein und leuchtete mit der Taschenlampe den Bergkamm vor ihr ab. Nachtgeräusche krochen unter dem Kronendach der Laubbäume hervor, das Gewühle nachtaktiver Tiere und des ruhelosen Gebirgswindes. Die piniengeschwängerte Luft und die kühle Feuchte der zeitigen Abenddämmerung weckten ihre Lebensgeister. Der Pfad hatte sich mit mehreren größeren gekreuzt und einige Augenblicke zuvor hatte sie auch einen breiteren Feldweg überquert. Sie folgte ihrem Instinkt, ließ sich von ihm durch die Nacht tragen, so wie der Mond die rastlosen Gezeiten lenkt.
Der Weg tat sich auf und ging in einen Hain mit Balsaminengewächsen und dann in eine Wiese mit dichtem Gras über. Oberhalb der Lichtung befand sich eine Hütte, morsch und wackelig stand sie auf Pfählen aus aufeinandergestapelten Steinen. Eine bröcklige Esse, die sich grau vor dem halbdunklen Nachthimmel abzeichnete, durchdrang das abgeschrägte Blechdach. Die Glasscheiben der Fenster wirkten wie finstere Augen, die nach Gästen Ausschau hielten.
Anna war angekommen. Sie war ausgesandt worden, um die Hütte zu finden. Sie ging über die Wiese, die Aufschläge ihrer Hose wurden vom Reif durchnässt, der sich auf dem Gras niedergelegt hatte. Am Fuße der Veranda lag ein großer runder Stein, so bleich wie der Bauch eines Fischs. Mit einem Fuß stieg Anna hinauf und spähte in die dunkle Türöffnung.
Das Haus wollte sie.
Vielleicht war es aber nicht das Haus, sondern die Person, die hier gelebt hatte und dann gestorben war. Irgendetwas hatte eine menschliche Seele an diesen Ort gebunden, ein Ereignis, das so schrecklich gewesen sein musste, dass es einen psychischen Abdruck hinterlassen hatte. So wie sich Licht durch die Emulsion auf dem Negativ eines Fotos durchbrennt.
Lautlose Musik brachte die Luft zum Summen. Die Härchen in Annas Nacken standen ab wie magnetisierte Nadeln. Trotz der nächtlichen Kälte waren ihre Achselhöhlen schweißnass. Eine übernatürliche Angst rann durch ihre Adern und drohte, ihre Neugier zu ersticken.
Hinter dieser Tür schwebte etwas, zart und zerbrechlich, als wäre ihm sein eigenes Wesen fremd.
Aber vielleicht war es auch nur der Wind, der durch einen Spalt in den Wänden aus Brettern und Latten pfiff.
Anna richtete die Taschenlampe auf ein Astloch direkt über dem Türgriff. Das Flackern eines weißen Schattens füllte das Loch aus. Dann löste er sich auf.
Anna setzte auch den anderen Fuß auf die Steinveranda. Eine Gestalt, ein Gesicht, prägte sich in die Maserung der Tür.
Eine dünne Stimme kreischte mit dem Wind auf, gedämpft und hohl, wie eine Flöte in weiter Entfernung: »Ich habe gewartet.«
Anna kämpfte gegen den inneren Drang an, einfach wegzulaufen. Auch wenn sie an Geister glaubte, traf sie die Befremdlichkeit einer plötzlichen Begegnung jedes Mal wie ein Schwall eiskaltes Wasser. Und dieser hier … dieser
sprach
.
Anna wich zurück, hielt dabei aber die Taschenlampe fest auf die Tür gerichtet.
»Geh nicht«, erklang die kalte, dumpfe Stimme. Annas Muskeln froren ein. Sie kämpfte mit ihrem eigenen Körper, ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Wieder ertönte die Stimme, schwacher, bettelnd: »Bitte.«
Es war die Stimme eines Kindes. Annas Angst mischte sich mit Mitgefühl und verschmolz dann mit dem Verlangen, das Phänomen zu verstehen. Blieben junge Geister für immer jung?
Anna stieg auf die Veranda. Die Bretter knarrten unter ihren Füßen. Unter dem Dachvorsprung flatterte
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