Die Tunnel der Seele
kratzten an der Rinde, Tiere wurden aus dem Schlaf hochgeschreckt, unsichtbare Vögel zwitscherten. Jede Hoffnung, Schritte zu hören, war vergeblich.
Es muss ein Mensch gewesen sein. Anna spürte keinen ätherischen Faden, dem sie folgen konnte. Sie fragte sich, ob die Person mit dem Schal den Geist auch gesehen hatte. Oder war es jemand, der die primitiven Figuren auf diese seltsame Weise aufgestellt hatte, um sie zu verhöhnen? Hatte sie den Geist wirklich gesehen oder war sie das Opfer eines ausgeklügelten Scherzes geworden? Suchte sie so verzweifelt nach einem Beweis für das Leben nach dem Tod, dass sie langsam Hirngespinste bekam?
Einen Moment lang rieb sich Anna das Handgelenk. Niemand, nicht einmal Anna selbst, hatte gewusst, wo sie diese Nacht hinführen würde. Der Geist war echt gewesen, da war sie sich sicher. Die Figuren waren wahrscheinlich das Werk einer der Hausgäste und als Geschenk oder Anerkennung hinterlassen worden. Oder vielleicht hatte einer der Hausangestellten sie aus Langeweile oder zum Spaß geschnitzt.
Sie drehte sich um, um dem Schein der Taschenlampe zurück nach Korban Manor zu folgen. Das seltsame Gefühl, nach Hause zurückzukehren, beunruhigte sie.
Ihr wurde bewusst, warum sie hierher gekommen war. Sie hatte sich dazu hinreißen lassen, zu glauben, dass es ihre eigene Entscheidung gewesen war, dass sie aus eigenen, persönlichen Gründen den Kontakt aufnehmen müsste. Aus allen der angeblich verfluchten, gespenstigen Orte, an denen sie ihre letzten Tage hätte verbringen können, hatte sie nicht einfach so dieses Berganwesen ausgewählt. Sie hatte nicht von diesem Ort geträumt, weil sie vor langer Zeit einmal in einem Magazin für paranormale Aktivitäten darüber gelesen hatte.
Nein, sie war
gerufen
worden.
Das Knacken eines Astes riss sie aus ihren Gedanken. Irgendetwas Großes trat aus den Schatten des Waldes heraus. Anna hob die Taschenlampe nach oben, jederzeit bereit, sie als Schlagwaffe einzusetzen. Der Lichtstrahl fiel auf eine sich nähernde, schwarze Gestalt.
»Sie!«, rief sie aus.
Mason hielt die Hände nach oben, als könne er so ihren Ärger abwehren. »Ich habe sie gesehen.«
»Den Geist?«
»Welchen Geist? Ich habe eine alte Frau gesehen, die Ihnen hinterhergeschnüffelt ist. Dann ist sie in den Wald abgehauen. Ich habe versucht, ihr zu folgen, aber sie muss diese alten Pfade ziemlich gut kennen.«
»Wie können Sie es wagen, mir hinterherzuspionieren? Was sind Sie? So etwas wie ein schleimiger, perverser Stalker?«
»Nein, ich habe nur … Na ja, Miss Mamies kleine Party hat mich zu Tode gelangweilt und nach all dem Gerede über Geister war ich einfach neugierig. Und als ich gesehen habe, wie Sie das Haus verlassen haben—«
»Sie arroganter Mistkerl.« Sie drängelte sich an ihm vorbei und lief den Pfad hinunter. Dass sie ihn im Dunkeln zurückließ, war ihr egal. Sie wünschte nur, dass Geister wirklich böse waren und einer ihm seinen blöden, übergroßen Kopf abbiss. Wenn sie Glück hatte, kam er vom Weg ab und musste die Nacht im Wald verbringen. Dann würde er ausgekühlt, voller Schmerzen und todunglücklich wieder aufwachen. Sie verfiel in den Laufschritt und redete sich ein, dass es nicht Wut oder Scham, sondern der Wind war, der ihre Augen mit Tränen füllte.
13. KAPITEL
M iss Mamie legte ihre Perlenkette ab und platzierte sie sorgsam zwischen den lilafarbenen Samtbändern und den Flaschen mit Rosenwasser auf ihrem Toilettentisch. Sie sah in den Spiegel und holte die Lampe näher heran, um ihre Haut genauer betrachten zu können. Jeder, der die leichten Falten um ihren Mund und die silbernen Strähnen an ihren Schläfen sah, schätzte sie auf fünfundfünfzig Jahre. Nicht schlecht, dafür dass sie auf die Einhundertundzwanzig zuging.
Ephram hatte versprochen, sie jung zu halten. Und Ephram hielt seine Versprechen. Er war der perfekte Gentleman. Das hatte ihr als erstes an ihm gefallen. Es war der Grund gewesen, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Sie hatte sich ihm vollkommen unterworfen, sich von ihm in Besitz nehmen lassen.
Sie öffnete das Medaillon, das an ihrer Halskette befestigt war. Im Inneren befand sich ein Foto von Ephram in jungen Jahren in Sepia, mit seinen markanten Wangenknochen, seiner schmalen Nase, seinem dichten Bart und den dicken Koteletten, die über seinem hohen, steifen Kragen wuchsen. Oh, und diese dunklen Augen, diese kalten, brennenden Augen, die ihr Herz gefangen genommen und ihre Seele gefesselt, die
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