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Die Tunnel der Seele

Die Tunnel der Seele

Titel: Die Tunnel der Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Nicholson
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etwas und verschwand dann am nächtlichen Himmel. Eine Fledermaus.
    »Was willst du?«, fragte Anna und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Der Strahl ihrer Taschenlampe enthüllte nichts als Holz und verrostete Beschläge.
    »Bist du sie?«
    »Sie?«
    »Hilf mir«, drang die klagende Stimme erneut an ihr Ohr, wurde jetzt schwächer, war beinahe nicht mehr hörbar. »Hilf uns.«
    Anna hob den Eisenriegel hoch, öffnete die Tür und leuchtete mit der Taschenlampe ins Haus.
    Sie erblickte eine kleine Gestalt mit einem kindlichen Gesicht, das von langen Locken umrahmt wurde. Unter den bettelnden Augen fielen einige Falten weichen Stoffes nach unten. Annas Gedanken überschlugen sich.
    »Bleib da«, sagte sie. Es war sowohl eine Bitte, als auch ein verzweifelter Befehl.
    Doch die Gestalt löste sich auf. Die geisterhaften Lippen öffneten sich, als wollten sie etwas sagen. Und dann sah sie nur noch die Augen, die schwebten und schwebten, zu Strähnen verblassender Schatten wurden und verschwanden. Die Augen hatten sich in Annas Gedächtnis eingebrannt. Niemals würde sie sie vergessen. Ihr Ausdruck war—
gequält
.
    »Hallo?«, rief Anna. Das Wort starb in der hohlen Hülle der Hütte ab. Sie leuchtete das ganze Zimmer ab. Auf der einen Seite standen ein paar Regale, ein unebener Holzbalken lag vor der schwarzen Öffnung der Feuerstelle. Ein langer Tisch markierte den ehemaligen Küchenbereich. Auf dem Tisch stand eine Reihe ungeschliffener, handgeschnitzter Figuren, ihre knorrigen Glieder standen in grotesken Winkeln ab.
    Anna berührte eine der Figuren. Sie war etwa dreißig Zentimeter groß, nicht lackiert oder bemalt. Das dunkle Holz war mit der Zeit ausgedörrt. Der Körper bestand aus einer abgehackten Wurzel, die Arme und Beine waren aus den Ranken einer Kletterpflanze gefertigt. Der Kopf war irgendeine verschrumpelte Frucht, braun wie ein verdorrter Apfel. Die Augen und der Mund zeigten ein deformiertes Grinsen.
    Anscheinend waren diese Geschöpfe ein Stück Volkskunst, etwas, das ein früher schottisch-irischer Bergbewohner in langen Winternächten geschnitzt hatte, um seine Kinder zu unterhalten. Doch die Figuren waren auf dem Tisch wie religiöse Reliquien angeordnet. Eine war in ein Stück abgeschälte Baumrinde gewickelt, das scheinbar ein Kleid darstellen sollte. Eine andere trug einen Kranz aus getrockneten, verwelkten Blumen.
    Anna leuchtete eine gebeugte Figur an, die ihr am nächsten stand. An der rauen Mundöffnung befand sich eine graue, papierähnliche Substanz. Als Anna mit einem Fingernagel daran kratzte, fiel sie auf den Tisch. Das gesprenkelte Muster und die grobe, kieselige Struktur verrieten Anna sofort, worum es sich dabei handelte.
    Schlangenhaut.
    Anna ging hinter den Tisch und sah in dieselbe Richtung wie die Figuren. Direkt gegenüber auf der anderen Seite des Raums befand sich eine Feuerstelle, deren Steine von vielen Tausend Feuern schwarz verfärbt worden waren. Der Aschehaufen ließ keine Schlüsse darüber zu, wann hier das letzte Feuer gebrannt hatte. In den Ecken des Zimmers hingen dicke Spinnenweben, die wie transparente Segel in der Brise wehten, die durch die Holzwände eindrang.
    Über einer Zimmerhälfte befand sich eine Galerie. Anna kletterte die klapprige Leiter nach oben, sah jedoch nur eine dicke Staubschicht und einen Haufen verstreute Blätter, der darauf hinwies, dass sich hier ein Nagetier eingerichtet hatte.
    Gerade nahm sie die primitive Küche genauer unter die Lupe, als sie draußen ein Geräusch hörte. Das Mondlicht, das durch das Fenster schien, war kurzzeitig verschwunden. War der Geist zurückgekehrt?
    Anna lief nach draußen und hielt dabei die Taschenlampe auf Brusthöhe. Eine gebückte menschliche Gestalt lief über die Wiese auf das Laubwalddickicht hinter der Hütte zu. Ein zerfetzter Schal wehte im mittlerweile aufgekommenen Nachtwind hinter ihr her.
    »Warte!« Anna machte einen Schritt nach vorn und stolperte über eine lose Diele. Sie taumelte von der Veranda und landete auf dem harten, schmutzigen Boden genau auf ihrem Handgelenk. Wie ein Stromschlag fuhr der Schmerz ihren Arm hinauf. Bis sie wieder auf beiden Beinen stand und ihre Taschenlampe aufgehoben hatte, war die Person oder das Ding im Dunkeln der Bäume verschwunden.
    Anna lief ihr nach. Als sie den Waldrand erreicht hatte, wartete sie und lauschte angestrengt. Die Nacht gab Hunderte Geräusche von sich. Der Wind stöhnte zwischen den Zweigen, Äste knackten, Blätter

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