Die Tunnel der Seele
Schmollmund vorstellen.
Was würde passieren, nachdem Paul Monate mit dem Drehen von Filmmaterial verbracht hatte? Er müsste es noch wochenlang nachbearbeiten, schneiden und Filmtexte schreiben. Doch technische Details waren eher nicht sein Ding. Paul wollte der Künstler sein, der posierende Autorenfilmer, der ungestüme Visionär, der sich standhaft weigert, sein Material zu verkaufen.
Egal zu welchem Preis.
Adam hatte keine Lust, sich zu streiten. Nicht nachdem sie gerade so viel Spaß hatten.
»Warum schläfst du nicht eine Nacht drüber und wir besprechen das morgen früh?« Adam streichelte über Pauls kräftigen Bizeps. Nachdem er den ganzen Sommer lang eine zwanzig Pfund schwere Kamera und einen Akkugürtel durch die Berge geschleppt hatte, war sein Körper deutlich straffer geworden.
»Ich meine, das hier oben ist eine ganz andere Welt«, sagte Paul. »Kein Strom, Leute, die wie vor hundert Jahren leben. Und die Bediensteten, alle hier leben noch wie Leibeigene in einem Schloss.«
Trotz Pauls Enthusiasmus schlummerte Adam langsam hinweg. »Aha«, murmelte er.
Er musste eingeschlafen sein, denn plötzlich stand er auf einem Turm, der Wind fuhr durch seine Haare, unter ihm wogen sich dunkle Bäume hin und her—
Nein, das war kein Turm. Er erkannte das Anwesen. Er stand oben auf dem Haus, auf diesem kleinen flachen Stück, das von einer weißen Brüstung umgeben wurde. Wie hatte das Dienstmädchen es gleich noch einmal genannt? Ach ja, Witwensteg. Adam kletterte über die Brüstung und blickte hinab auf den gepflasterten Weg zwanzig Meter unter ihm, und die Wolken gaben den Befehl zu springen. Er konnte eine Hand auf seinem Rücken spüren, die ihn weiter schubste, dann flog er, fiel, der Wind schüttelte ihn, warum—
»Adam! Wach auf.« Paul rüttelte an seiner Schulter. Paul saß aufrecht im Bett, die Bettdecke um die Hüften. Es musste schon geraume Zeit ins Land gegangen sein, denn durch das Fenster fiel der schwache Schein des Mondes.
»Was ist?«, Adam war noch immer benebelt von seinem Traum und den Drinks nach dem Abendessen.
Paul zeigte auf die Tür, seine Augen im trüben Halbdunkel weit aufgerissen. »Ich habe etwas gesehen. Eine Frau, glaube ich. Sie war ganz in Weiß gekleidet.
Sie
war weiß.«
«So ist das in den südlichen Appalachen, Paul. Hier ist jeder weiß.« Adam schüttelte die Bruchstücke seines Albtraums ab.
»Nein, so meinte ich das nicht. Sie war
durchsichtig
.«
Adam gab ein verschlafenes Schnauben von sich. »Das passiert, wenn du die Haare von einer Panamakatze rauchst. Es ist ein Wunder, dass du nicht den Geist von J. Edgar Hoover im Frauenfummel gesehen hast.«
»Ich mache keine Witze, Adam.«
Adam legte eine Hand auf Pauls Brust. Das Herz seines Freundes schlug heftig.
»Deck dich wieder zu«, befahl Adam. »Du musst eingeschlafen sein und einen merkwürdigen Traum gehabt haben. Ich glaube, ich hatte selbst einen.«
Paul legte sich wieder hin, sein Atem ging schnell und flach. Für einen kurzen Augenblick öffnete Adam die Augen und sah, wie Paul an die Decke starrte. »Keine Drinks und kein Gras morgen, okay?«
Einen Moment lang herrschte Stille, eine, die nur ein durch den Lärm verseuchter New Yorker wirklich zu schätzen wusste. Dann sagte Paul: »Ich habe dir gesagt, dass ich arbeiten würde.«
Adam kannte diesen Ton. Doch für einen Urlaub hatten sie schon mehr als genug gestritten. Adoption, Pauls Video, seine Drogen. Und jetzt sah Paul Dinge. Plötzlich fragte sich Adam, ob ihre Beziehung sechs Wochen auf Korban Manor überstehen würde.
Er drehte Paul den Rücken zu und vergrub sich in den Kissen.
»Sie trug Blumen in der Hand«, flüsterte Paul.
24. KAPITEL
M asons Hand schmerzte. Zu seinen Füßen befand sich ein Meer aus Sägemehl und Hobelspänen. Kleine Holzteilchen waren in seine Tennisschuhe gewandert und hatten sich bis ganz nach unten vorgearbeitet, wo sie sich tief in seine Haut bohrten. Er warf den Meißel und den Holzhammer auf den Tisch und ging ein paar Schritte zurück, um sein Werk zu betrachten.
Er hatte wie im Fieberwahn gearbeitet, nicht darüber nachgedacht, welche Maserung als nächstes kam, welche Teile herausgeschnitten werden mussten, wo er etwas abzuspalten hatte. Mit dem Ärmel seines Flanellhemdes wischte er sich über die Stirn. Der Raum war wärmer geworden. Die Kerzen waren schon lange abgebrannt und das Öl stand niedrig in der Lampe. Er musste mehrere Stunden gearbeitet haben, doch der Schmerz in seinen
Weitere Kostenlose Bücher