Die Tunnel der Seele
und staunte, wie sehr seine Büste doch diesem ernst dreinblickenden Gesicht ähnelte. Doch an diesem Morgen war sein Blick weniger finster und die Augen schienen etwas heller zu sein—
Sei nicht so verdammt TÖRICHT
, schalt er sich selbst in William Roths Akzent.
Mason nahm eine lange, heiße Dusche. Gerade als sich die Dämmerung zwischen den Ritzen in den Gardinen hineinzwängte, fiel er endlich ins Bett. Vor den Augen seines müden Geistes sah er Korbans Antlitz, dann löste es sich in Nebel auf und er sah Anna. Darauf folgte seine Mutter, ihr erschöpftes Gesicht wirkte in diesem erbärmlichen Licht der Hoffnung, das aus irgendeinem Grund noch immer in ihren kranken Augen funkelte, noch trauriger. Dann erschien ihm Miss Mamie mit ihren hochmütig geschürzten Lippen. Ransom, wie er sich an seinen schützenden Talisman klammerte. Korban mit seinen schwarzen Augen, in denen dunkle Geheimnisse verborgen lagen. Anna, sanft und auf irgendeine Art verletzlich, ebenso mit unergründlichen Geheimnissen behaftet.
Korban. Seine Mutter. Die Büste. Anna.
Miss Mamie. Ransom.
KorbanAnnaMissMamieAnnaKorban.
Anna.
Er entschied, dass ihm Annas Gesicht am besten gefiel und dachte an sie, bis er in einen tiefen Schlaf verfiel und Träume von Holz und Werkzeugen ihn heimsuchten.
25. KAPITEL
N och bevor der erste Hahnenschrei die schwarze Stille durchbrach, schlug Anna die Augen auf. In der anderen Zimmerhälfte drehte sich Cris gerade im Schlaf auf die andere Seite. Die Dunkelheit hinter Annas geschlossenen Augen war nicht ganz so finster wie die Dunkelheit, die das Zimmer in Besitz genommen hatte. Auf der Rückseite ihrer Augenlider zuckten bisweilen blaue und rote Blitze auf.
Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel und ging ins Badezimmer. Die alten Rohrleitungen nutzten zum Spülen der Toilette einzig und allein die Schwerkraft und auf den Wasserdruck konnte man sich nicht wirklich verlassen, wenn auch die Zentralheizung für ausreichend heißes Wasser sorgte. Sie entfachte eine runde Laterne, bevor sie ihre Taschenlampe ausschaltete, dann trat sie in die Dusche und drehte die Wasserhähne auf.
Das dumpfe Trommeln des Wassers ließ sie die Schmerzen in ihrem Unterleib für eine Weile vergessen. Sie hatte letzte Nacht nicht geträumt, und dass obwohl unzählige Fragen in ihrem Kopf herumwirbelten, während sie vom Sog des Schlafes in die Tiefe gezogen wurde.
Wo war ihr Geist? Wer war Rachel Faye Hartley? Warum interessierte sich Miss Mamie so stark für Annas »Gabe«? Wie viel Zeit blieb ihr noch? Was würde geschehen, wenn diese Zeit abgelaufen war?
Und der Knüller: Würde es überhaupt jemanden interessieren?
Mühsam zog sie den Duschvorhang zurück und wickelte sich in ein Handtuch. Der Raum war abgekühlt, und nun, da das Wasser nicht mehr lief, hing der Dampf schwer auf ihrer Haut. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen, und obschon sie nicht in der Stimmung war, den Grad der Dunkelheit ihrer Augenringe zu beurteilen, wollte sich doch sicherstellen, dass sie als gesund und munter durchging.
Gerade als sie einen Zipfel ihres Handtuchs ergreifen wollte, um damit den Spiegel abzuwischen, wurde es um sie herum noch kälter, als ob ein Windstoß durch die Ritze unter der Tür hindurchgefahren wäre. Aus dem Mund ihres verschwommenen Spiegelbildes drangen kleine Nebelwölkchen.
Plötzlich lief das Wasser, das sich auf dem Spiegel angesammelt hatte, in kleinen Rinnsalen hinunter und Anna traute ihren Augen nicht. Denn selbst jemand, der Geister sehen konnte, hatte so etwas noch nicht erlebt.
Auf der Spiegeloberfläche bildeten sich Buchstaben, wie von einer unsichtbaren Fingerspitze gezeichnet. Im sanften Schein der Lampe schimmerten silberne Zeichen: W-E-I.
In den Buchstaben sah Anna ihre eigenen, weit aufgerissenen Augen, während sich das Wort auf dem Spiegel vervollständigte: C-H-E.
»Weiche?«, flüsterte Anna, nachdem ihr Verstand den Zeichen ihre Bedeutung gegeben hatte.
War das eine Art Botschaft? Wer sollte weichen? Von wo weichen? Wollte sie jemand aus dem Haus haben?
Doch als der Dampf schon kurz davor war, sich in Eis zu verwandeln und Schauer ihre Haut zusammenzogen, wurde noch ein Wort sichtbar.
Genau über der Fassung des Spiegels stand in großen Lettern das Wort F-R-O-S-T.
Anna zwang sich zum Einatmen, obwohl ihre Lungen wie harte, gefrorene Steine in ihrer Brust hingen. Dann verschwammen die Buchstaben, der kalte Dampf sammelte sich, lief in kleinen Bächen das glatte Glas
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