Die Tunnel der Seele
Anna?«
»Ich nehme an, das weiß ich, wenn ich es gefunden habe.«
»Das kann man nur hoffen. Aber vielleicht müssen Sie gar nicht suchen. Vielleicht wird es Sie von selbst finden.«
»Dann haben Sie also nichts dagegen, wenn ich mich ein bisschen auf Ihrem Friedhof umsehe?«
Miss Mamie richtete den Blick auf Korbans Grabmal. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«
»Danke.«
»Aber kommen Sie nicht zu spät zum Abendessen. Und seien Sie vorsichtig, wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumstromern.« Miss Mamie wandte sich zum Gehen um, doch dann fügte sie hinzu: »Sie sind eine von denen, nicht wahr?«
»Eine von welchen?«
»Eine von denen, die die Bergleute hier als ›begabt‹ bezeichnen. Sie haben das zweite Gesicht. Die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die für andere unsichtbar bleiben.«
»So besonders bin ich nicht.«
»Diese Geistergeschichten sind einfach köstlich. Und auch gut fürs Geschäft. Welcher Künstler, der von sich glaubt, ein Leben nahe dem Abgrund zu führen, würde die Möglichkeit ausschlagen, hierher zu kommen? Wenn Sie etwas sehen, werden Sie mir davon berichten, nicht wahr?«
»Großes Indianerehrenwort.«
»Da bin ich ja beruhigt.«
Anna schaute der Frau nach, wie sie über den Rasen und in den Wald hinein ging, und lief dann hinüber zu den anderen Grabsteinen, die sich wie kleine Punkte über den Hügel erstreckten. Sie las die Inschriften und die Namen auf ihnen. Hartley, Streater, Aldridge, McFall. Dahinter lagen nur noch einfache Grabplatten, bisweilen reckte sich ein Klumpen aus schroffem Granit in Richtung Himmel, ein tristes Andenken an ein längst vergessenes Leben.
Würde auch ihr Tod so wenig Aufmerksamkeit erregen? Würde auch ihr Grabstein so bedeutungslos sein? Spielte das überhaupt eine Rolle?
Am Rande der verstreuten Steine, wo die Rückseite des Zauns an den Wald grenzte, stand ein blasser, gemeißelter Grabstein im Schatten einer alten Zeder. Anna ging zu ihm und las die Inschrift. Hineingeätzt in den Marmor stand »Rachel Faye Hartley«. Über dem Namen war ein kunstreiches Blumenbouquet eingraviert.
»Rachel Faye, Rachel Faye«, murmelte Anna vor sich hin. »Jemand muss dich geliebt haben.«
Und obwohl Rachel Faye Hartley nur noch Staub war, beneidete Anna sie ein bisschen.
21. KAPITEL
A us dem dichten Wald heraus beobachtete Sylva das Geschehen, bis Miss Mamie gegangen war. Auf dem Friedhof wirkte Anna klein und verloren, wie sie da mit den Steinen sprach und zwischen den Grashalmen nach Geistern Ausschau hielt. Das Mädchen hatte die Gabe, das lag klar auf der Hand. Und noch etwas anderes war deutlich sichtbar: diese dunkle Aura, die sie umgab, die um ihr Fleisch hing wie ein mitternächtlicher Regenbogen.
Anna war kurz vorm Sterben.
Sylva zog ihren Schal enger um sich, hielt ihn mit einer ihrer knotigen Hände fest. Mit der anderen umklammerte sie ihren Gehstock, auf den sie sich den Rest des Weges zurück von Beechy Gap gestützt hatte. Sie ging in letzter Zeit nicht viel heraus, vor allem jetzt, da Korbans Speichellecker frei herumliefen. Alles war in Aufruhr geraten. Das war teils dem bevorstehenden blauen Mond geschuldet und teils dem Mädchen auf dem Friedhof, das ein wenig zu lange auf das Grab von Rachel Faye Hartley gestarrt hatte.
»Du wirst ihr noch früh genug folgen«, flüsterte Sylva in das Lorbeerdickicht, das sie umgab. »Wenn Ephram es zulässt.«
Die Sonne hatte schon den Rückzug angetreten, als Anna zurück über den Zaun kletterte. Trotz ihrer Krankheit sprühte sie geradezu vor Energie. Anna kannte sich mit alten Gebräuchen, der Macht von Zaubersprüchen und dergleichen nicht aus. Sie wusste nichts über die Kräfte heilender Wurzeln, Knochenpulver und besonderer Arten der Verwünschung. Doch vielleicht war dieses Talent nur tief in ihr vergraben und nicht für immer verloren. Denn Blut war dick, dicker als Wasser. Und die Magie strömte durch die Tunnel der Seele, hatte Ephram immer gesagt.
Aber Ephram war ein Lügner.
Sowohl vor als auch nach seinem Tod.
Das Heulen eines Käuzchens ertönte, ein Klang so einsam wie der Wind in einer dunklen Winternacht. Das Zeichen des Todes, wenn einer es am Tag zu hören bekam. Doch in letzter Zeit waren die Zeichen des Todes überall, kamen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sylva sprach einen Zauber für eine gute Reise und ging hinein in den Wald. Sie lief so schnell, wie es ihr möglich war. Sie wollte zu Hause sein, bevor die Sonne die Gipfel der Berge
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