Die Tunnel der Seele
Gliedern war der einzige Beweis dafür, dass so viel Zeit vergangen war.
Und natürlich die Büste, die vor ihm auf dem Tisch stand.
Er hatte sich noch nie zuvor an einer Büste probiert. Er führte die Laterne näher heran und untersuchte die Figur mit kritischem Auge. Er konnte keine Fehler finden, alle Gesichtszüge waren ebenmäßig und proportional. Selbst die geschwungene Form der Ohrläppchen wirkte lebensecht und naturgetreu. Die Skulptur ähnelte ihrem Modell bis ins kleinste Detail.
Sie ähnelt ihm ZU sehr
, dachte Mason.
Ich bin Lichtjahre davon entfernt, etwas von diesem Kaliber hervorzubringen. Ich hatte meine Erfolge. Aber das … Jesus Henry Christus, ich könnte Korbans Gesicht nicht so gut hinbekommen, selbst wenn ich den alten Sack GEKANNT hätte
.
Aber es war Korbans Kopf, der da auf dem Tisch stand, der Korban, der die gigantischen Ölgemälde in den Etagen über ihm ausfüllte, das gleiche Gesicht, das über dem Kamin in Masons Zimmer hing. Und das verblüffendste war, dass seine Augen dieselbe Macht ausstrahlten wie die auf den Porträts. Doch das war lächerlich. Diese Augen waren aus totem Ahornholz.
Und trotzdem …
Es war beinahe so, als steckte Leben in der Figur, als schlummerte schon immer diese Form im Herzen des Holzes, als existierte die Büste bereits seit Ewigkeiten, gefangen im Baum, das Gesicht eingesperrt. Mason hatte einfach nur den Schlüssel hineingesteckt und die Tür geöffnet.
Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, woher du kommst«, sagte er zu der Büste. »Aber du wirst dafür sorgen, dass die Kritiker mich lieben.«
Die Liebe der Kritiker bedeutete Erfolg und Erfolg bedeutete Geld. Erfolg bedeutete, dass er nie mehr in seinem ganzen Leben einen Fuß in eine Textilfabrik setzen musste. Nie wieder würde er in jeder Pause graue Papierfussel aus seiner Nase holen müssen. Nie wieder würde er darauf warten, bis ihm das Klingeln einer Glocke erlaubte, pinkeln zu gehen oder sich ein Snickers zu holen oder mit den anderen Fusselköpfen nach Feierabend auf den Parkplatz zu stürmen. Natürlich lagen noch viele Jahre als Bildhauer vor ihm, doch jeder Erfolg begann mit dem großen Durchbruch. Er würde Mutter ein Haus kaufen, eine fortschrittliche Lesesoftware für Sehbehinderte und einen teuren Computer. Und dann würde er noch alles andere tun, was nötig war, um sie für die vielen schweren, harten Jahre zu entschädigen. Das Beste war jedoch, dass er sie zum Lächeln bringen würde.
Doch vielleicht wurde er ja auch nur von einem Traumbild zum Narren gehalten, diesem Rausch, der sich nach der Vollendung einer Arbeit einstellte. Schließlich musste er noch das Holz behandeln, es feinschleifen und polieren. Und da das Holz nach all den Jahren im Wald sehr trocken war, konnte es immer noch reißen und zerbrechen. Es gab also noch Hunderte Dinge, die schiefgehen konnten.
Mason rieb sich die Schulter. Seine Kleidung war vom Schwitzen feucht geworden. Die Müdigkeit, die sich unter der Oberfläche angestaut hatte, erreichte nun ihren Höhepunkt und schlug wie eine tosende Welle über ihm zusammen. Trotzdem war er zu aufgeregt, um überhaupt an Schlaf zu denken. Er warf einen letzten Blick auf Korbans Büste und bedeckte sein Werk mit einem alten Leintuch, das er in der Ecke gefunden hatte.
Durch die ebenerdigen Fenster fielen die ersten Sonnenstrahlen der Morgenröte. Masons Bartstoppeln juckten. In seinem alten Leben hätte er jetzt schon seine dritte Tasse Kaffee intus und würde an der Ecke auf Junior Furman warten, der ihn immer mit seinem Pickup auf Arbeit mitnahm. Der gleiche Ablauf wie an Tausenden von anderen Tagen auch.
Vorsichtig trat Mason den Rückweg durch den Keller an, duckte sich vor den niedrigen Balken und wich den aufgestapelten Möbeln aus, die hier unten eingelagert waren. Irgendwann fand er sich an der Treppe wieder und stieg ins Erdgeschoss hinauf. Vom Ostflügel wehte ein Duft nach frisch gebratenem Speck, Eiern und Gebäck herüber und irgendwo weiter weg wurde mit Geschirr geklappert. Masons Magen begann sich zu melden. In der Vorhalle traf er auf ein älteres Pärchen, aus ihren Keramiktassen stieg wohlriechender Kaffeedampf auf. Mit argwöhnischem Blick nickten sie ihm zu. Mason wurde bewusst, dass er wahrscheinlich sehr bärtig und ungekämmt aussah, wie ein entflohener Geistesgestörter, der ins Medikamentenzimmer eingebrochen war.
Nachdem er sein Zimmer betreten hatte, sah er sich nochmals das Gemälde von Korban an
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