Die Tunnel der Seele
Anmut. Kein Wunder, dass sie Annas Lieblingstiere waren. Früher, vor dem fatalen Onkologiebericht, hatte sie davon geträumt, einen eigenen Stall zu besitzen und eine Pferdepension zu betreiben. Doch dieser Traum war genauso vergänglich und unwirklich wie all die anderen, ob sie nun von Korban Manor, Stephen oder ihrem eigenen Geist handelten.
Sie hörte, wie jemand völlig falsch vor sich hin pfiff, es klang ein bisschen nach »Yankee Doodle«. Als sie sich umdrehte, sah sie Mason die Straße zur Scheune hinuntergehen. Er winkte und hielt neben ihr am Zaun an, dann lies er den Blick über das Weideland schweifen, als ob er sich einen Film ansah, der auf die in der Ferne liegenden Berge projiziert wurde.
»Na, wie läuft die Geisterjagd?«, fragte er.
Das konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen. Stephen war schlimm genug. Wobei Stephen wenigstens an Geister glaubte, auch wenn seine Energiefelder anstelle von Seelen besaßen. Mason hingegen war nur ein weiterer egozentrischer Loser, wahrscheinlich ein blinder Atheist und todsicher, dass nach dem letzten Atemzug absolut nichts kam. Atheisten hatten eine bekehrendere und süffisantere Art als jeder Christ, den Anna bisher getroffen hatte.
»Wissen Sie was?«, fragte sie. »Leute wie Sie verdienen es, gejagt zu werden.«
Wie ein sich ergebender Verletzter breitete Mason die Arme aus. »Was habe ich denn gesagt?«
»Sie müssen es nicht mit Worten sagen. Ihre Augen verraten mehr als genug. Und sie sagen: ›Was für eine liebenswürdige Traumtänzerin. Irgendwann muss sie zwangsläufig von einem tollen Künstler wie mir beeindruckt sein, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie in meinem Bett landet.‹«
»Sie müssen mich mit William Roth verwechseln.«
»Tut mir leid«, antwortete Anna, denn sie wusste, dass sie ihren Frust und ihre Wut an einem relativ unschuldigen Zuschauer ausließ. Und dennoch, niemand war vollkommen unschuldig. »Ich bin im Moment etwas neben der Spur.«
»Möchten Sie darüber reden?«
»Ja, genau. Als ob Sie das verstehen würden.«
»Hören Sie, ich habe gesehen, wie Sie lange Spaziergänge unternommen und sich nachts mit Ihrer Taschenlampe herausgeschlichen haben. Das heißt, Sie sind gern allein. Das ist vollkommen in Ordnung. Ich bin auch gern allein. Aber wenn mir schon seltsame Dinge passieren, dann geht es Ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit genauso. Vielleicht passieren Ihnen ja sogar noch schlimmere Sachen. Ich würde jedenfalls für kein Geld der Welt im Dunkeln
dorthin
gehen.« Mason nickte in Richtung Wald, der selbst in seinem bunten Herbstkleid augenscheinlich schnelle und dunkle Schatten verbarg.
»Über welche seltsamen Dinge sprechen Sie? Ich dachte, Sie wären Skeptiker.«
»Ah. Ich dachte, ich wecke mal Ihre wissenschaftliche Neugier, wenn ich schon nichts anderes in Ihnen erwecken kann. Haben Sie George irgendwo gesehen?«
»George?«
Mason ging näher an sie heran und senkte die Stimme, als würde jemand sie belauschen. »Wie lange muss jemand tot sein, bevor er ein Geist wird?«
Anna schaute durch die Bäume hinüber zum Haus und hinauf zum Witwensteg mit der schmalen, weißen Brüstung, wo ihre Traumfigur im fahlen Lichte des Mondes gestanden hatte. »Vielleicht wird man schon zum Geist, bevor man überhaupt gestorben ist.«
»Okay. Wie wäre es damit? Kann ich von etwas heimgesucht werden, das nur in meinem Kopf existiert? Denn ich sehe Ephram Korban jedes Mal, wenn ich die Augen schließe. Ich sehe ihn im Spiegel, ich sehe ihn im Kamin, meine Hände schnitzen sein gottverdammtes Gesicht, selbst wenn ich ihnen befehle, an etwas anderem zu arbeiten.«
»Ein Psychiater würde das wohl als Zwangsneurose bezeichnen. Aber das beschreibt so gut wie jeden Künstler, den ich in meinem bisherigen Leben kennengelernt habe. Und etwa neunzig Prozent aller Männer.«
»Hey, wir sind nicht alle Arschlöcher. Und ich wünschte, Sie würden endlich Ihre persönliche Fehde gegen jeden, der einen Traum hat, einstellen. Einige Künstler sind nur ganz normale Leute, die zufällig Dinge erschaffen, weil sie verdammt noch einmal einfach nicht wissen, wie sie mit anderen kommunizieren sollen.«
»Und einige von
uns
sind ganz normale Leute, die nach einem Beweis für das Leben nach dem Tod suchen, weil dieses Leben auf unzählige Arten und Weisen beschissen ist und die Menschen uns immer wieder enttäuschen. An Geister kann ich einfacher glauben als an die meisten Menschen, denen ich bislang über den Weg gelaufen
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