Die Tunnel der Seele
durchforstete sein Gedächtnis. Hatte er etwas in dieser Art erwähnt? Eine menschliche Figur? Hatte er über so etwas überhaupt nachgedacht? Vielleicht nahmen seine Traumvorstellungen übergroße Dimensionen an, sodass er von ihnen sprach, bevor er überhaupt mit der Arbeit anfangen konnte.
»Ja, über so etwas habe ich nachgedacht«, meinte er schließlich.
»Sie werden erfolgreich sein. Aber Sie müssen das Feuer in sich haben. Master Korban hat immer gesagt: ›Harte Arbeit ist Belohnung genug.‹ Sie wissen doch, was man über untätige Hände sagt.«
Mason hob die Hand hoch, mit der er das Sandwich festhielt. »Dann gehe ich jetzt wohl besser an die Arbeit.«
Miss Mamie schaute erwartungsvoll, als er nach dem Türknauf griff. Mason wollte sein Werk niemandem zeigen, bevor er sich nicht ganz sicher sein konnte, dass es fertig war.
»Und ich spreche mit Ransom wegen des Holzes«, sagte er und schlüpfte durch die Tür. Er zog sie hinter sich ins Schloss und geriet in der plötzlichen Dunkelheit ein wenig ins Stolpern. Nachdem er Zentimeter um Zentimeter die Treppe hinuntergestiegen war, hatten sich seine Augen an das wenige Tageslicht gewöhnt, dass durch die kleinen, hochgelegenen Fenster sickerte.
Er erreichte die Werkbank und hob das Leintuch hoch. Vom Tisch aus starrte ihn Korban an.
Nein, nicht Korban. Nur ein extrem detailliertes Replikat.
Doch für einen kurzen
Moment
…
Ruhig, Junge. Du hattest nur ein bisschen wenig Schlaf. Das ist alles.
Dann schaute Mason auf seine Hand hinunter und erinnerte sich, wie es sich angefühlt hatte, die Köchin zu berühren. Die Hand war durch die Köchin hindurchgegangen.
Er erinnerte sich, wie seine Hand in ihr Fleisch eingedrungen war, als bestünde sie aus durchnässtem Weißbrot. Er erinnerte sich, wie seine Hand gebrannt hatte.
Ok, du leidest also nicht nur an Schlafmangel. Du musst dir letzte Nacht selbst eins mit dem Meißel auf den Kopf gehauen haben.
Vielleicht war sein Hunger ja der Übeltäter. Er biss noch einmal von seinem Sandwich ab.
Ja, Hunger. Er sollte sich während seines Aufenthalts hier lieber ein bisschen Winterspeck zulegen. Es könnten schlechte Zeiten auf ihn zukommen.
Es sei denn, er brachte weitere Werke wie
dieses
hervor.
Die Büste war ein solider Beweis seiner Begabung. Exakte, lebensechte Details. Jede einzelne Wimper fein definiert. Die Lippen zwischen dem dicken Vollbart zu einem leichten Lächeln geschwungen, jederzeit bereit, sich zu öffnen und zu sprechen. Selbst als er sich abwendete, hatte er das Gefühl, dass die Augen ihn beobachteten.
In der Ecke fand er einen alten Besen und fegte die Holzspäne zu einem kleinen Haufen zusammen. Plötzlich fiel sein Blick auf das an den Schrank gelehnte Ölgemälde. Er hatte völlig vergessen, Miss Mamie danach zu fragen.
Mason nahm die vollendete Abbildung des Hauses in die Hand. Er hielt sie so hoch, dass er die Pinselstriche im Tageslicht bewundern konnte. Ja, wunderschön, wenn der Künstler doch nur den kleinen Schandfleck behoben hätte.
Der Fleck war größer geworden, seit er ihn letzte Nacht entdeckt hatte. Der graue Bereich hatte sich so weit ausgedehnt, dass er über zwei Pfosten der Brüstung ragte.
Es musste an der Farbe liegen. Doch Mason hatte noch nie von einer Ölfarbe gehört, deren Zustand sich so schnell verschlechtern konnte. Obwohl die Farbe getrocknet war, konnte sie alles andere als antik bezeichnet werden.
Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Der sich auf unnatürliche Weise ausdehnende Fleck, Ransom und seine Talismane, Anna und ihre Andeutungen in Bezug auf Geister, die unheimliche Lilith, die substanzlose Köchin. Klar, er konnte alle diese Dinge auf seine blühende Fantasie schieben. Doch es war besser, die Schuld bei seinem alten, immer einsatzbereiten, allzeit beliebten Favoriten zu suchen.
Dem Stress.
Mason aß sein Sandwich auf, obwohl er keinen Appetit mehr hatte. Diese Büste war nicht sein Meisterstück. Miss Mamie hatte recht. Größer war besser.
28. KAPITEL
»H ast du heute Morgen ein paar gute Bilder in den Kasten bekommen?« Adam lehnte am Schreibtisch und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
Paul legte die Kamera weg. »Ich muss meine Akkus schonen. Ich habe nur vier. Das heißt, ich habe für etwa acht Stunden Strom. Und es gibt hier draußen keine Möglichkeit, sie wieder aufzuladen.«
Adam sah zu, wie Paul seine Ausrüstung im Schrank verstaute. Sein Freund hatte einen wirklich schönen Körper, das
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