Die Tunnel der Seele
baumlosen Stück Erde herumlagen. Der Geist stand jetzt inmitten der Ruinen einer alten Hütte, seine himmlische Gestalt durchbohrt von einem Dutzend Holzscheite. Er öffnete seinen Mund, versuchte eine längst verlorene Sprache wiederzufinden. Im Lichtstrahl der Taschenlampe leuchteten zerbrochene Glasteile auf.
Anna rutschte aus und glitt vom Felsen unter ihren Füßen geradewegs auf den Trümmerhaufen zu. Ein einzelner, dicker Holzbalken ragte verloren in den Himmel. Anna trat näher, folgte dem Lockruf des Geistes, der mit leeren Augen auf sie wartete, den Blumenstrauß ausgestreckt als Willkommensgruß oder als Geste der Entschuldigung.
Dann wurde es stockdunkel.
Einer der zerborstenen Balken schnellte im hohen, hörbaren Bogen durch die Luft, als ob er von einem unsichtbaren Riesen geschwungen werden würde, und schmetterte mit voller Wucht in ihren Bauch. Die Taschenlampe fiel zu Boden und sandte ihren schwachen, orangefarbenen Lichtstrahl in das Gestrüpp.
Anna krümmte sich, durch ihren Bauch drangen Feuerspeere, rostige Nägel bohrten sich in ihre Schläfen, ihre Zähne verbissen sich in der blechernen Dacheindeckung, ihr rechtes Handgelenk wurde in einer messerscharfen Schraubzwinge eingequetscht. Das hier war schlimmer als die Torturen des Krebses. Diese Schmerzen gingen nicht nur unter die Haut, sondern brannten sich tief in ihren Knochen ein, gingen an ihre Substanz.
Anna schloss die Augen und wurde ohnmächtig.
Selbst im Zeitlupentempo wären diese Todesqualen nicht erträglicher gewesen. Das Hämmern ihres Pulses wurde von gewaltigen Erschütterungen in den Gebäudetrümmern übertönt. Der Gestank von verrottetem Holz stieg ihr in die Nase, als sie sich im matschigen Blattlaub vor Schmerzen wand.
Durch die Schuttberge hindurch erblickte sie einen langen, finsteren Tunnel, der seinen kalten, gierigen Schlund weit aufriss. Aus den Tiefen des Tunnels wehte ihr ein fader Geruch entgegen. Die Schweißperlen auf ihrer Haut verschmolzen miteinander und benetzten ihren von Kälte gepeinigten Körper hauchdünn mit Eis. Sie erinnerte sich an die Worte auf dem Badezimmerspiegel. Weiche Frost.
Dann vernahm sie eine Stimme, ein leises, klägliches Jammern, das sich über die Hügel legte.
Anna zwang sich, ihre Augen zu öffnen, die von einem dicken Tränenschleier umhüllt waren. Verschwommen sah sie zwei Gestalten, die in den Trümmern ihr Unwesen trieben. Eine davon war der Geist der Frau. Sie kniete, über ihr schwebte ein zweiter Geist, ein Mann in blauen Jeans, einem Flanellhemd und Lederstiefeln. Seine durchsichtige Kleidung glänzte genauso abscheulich wie seine widerlich milchige Haut. Aus einem Hemdsärmel hingen einige Fetzen fahle Haut. In der Hand hielt er den Holzbalken, der Anna getroffen hatte. Er blickte auf die Frau herab, seine Augen so finster und tief wie der kalte, schwarze Tunnel.
Den Mann umgab eine Aura des Bösen, er strahlte eine furchterregende Niederträchtigkeit aus. Sein geisterhaftes Gesicht war von Zorn ergriffen, hinter seinen verbitterten Lippen blitzten seine gefletschten Zähne auf. Er ließ den Balken fallen und ergriff die Kehle der Frau, packte so fest zu, dass Anna die Kraft in seinen Fingern am eigenen Leib spüren konnte. Der Geist der Frau schrie lautlos auf, wand sich für einen kurzen Augenblick wie ein Leinentuch hin und her, das sich in einem Dornenstrauch verfangen hatte, und wurde dann unsichtbar. Der Blumenstrauß entglitt ihren Fingern und löste sich im Nebel in Wohlgefallen auf. Sie war zum zweiten Mal gestorben.
Von Panik ergriffen rollte Anna sich auf den Bauch und versuchte, auf allen Vieren kriechend zu fliehen. Noch immer brannte ihr Innerstes lichterloh, aber die Welle der Angst, die sie jetzt überrollte, ließ sie die höllischen Schmerzen vergessen. Sie blickte zurück und sah, dass der Mann jetzt noch heller als zuvor strahlte, als ob der begangene Mord sein Feuer geschürt hätte. Er lächelte sie an, seine Zunge so glitschig wie ein Aal, seine Augen noch dunkler als die schwärzeste Nacht.
Sein Mund öffnete sich. »Bist du es, Selma?«
Dieser Geist hatte seine Sprache noch nicht vergessen, obschon seine Stimme sehr kratzig klang.
»Ich bin es«, sagte der Geist. »George. Ich wusste, du würdest zurückkommen. Korban hat es mir versprochen.«
Zurückkommen? Von SEINER oder ihrer Seite?
»Ich bin nicht Selma«, erwiderte Anna und versuchte, aufzustehen, aber die Schwere des Nachthimmels lastete zu stark auf ihr.
»Ich habe ein
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