Die Tunnel der Seele
dicker Stapel von Manuskriptseiten türmte sich auf dem Schreibtisch. Seine brennenden Augen zwangen ihn, die ausgetrockneten Augenlider für einen kurzen Moment zu schließen. Die Muse lockte ihn weg aus der Welt des WORTES, wollte ihn von seinem hohen, weichen Thron stoßen. Vielleicht war die Muse überhaupt kein Freund, sondern ein Feind. »Was willst du?«
Jetzt war sie nicht mehr die Muse, sondern einfach nur noch Bridget, eine vor Kälte zitternde Studentin aus Georgia, deren Nippel sich knochenhart unter dem durchsichtigen Nachthemd abzeichneten.
»Ich mache mir Sorgen um dich.« Sie beugte sich von hinten über ihn und schlang ihre Arme um seine Brust. Spence duldete, dass sich der Drehstuhl nach hinten bog. Jetzt, da der Bann des WORTES gebrochen war, wurde sein Körper von Angst erfüllt. Seine Augenlider zuckten.
Bridget küsste ihn auf den Nacken, direkt unter seinen stoppeligen Haaransatz. »Du arbeitest zu viel. Warum kommst du nicht einfach ins Bett?«
»Ich kann nicht arbeiten, wenn ich im Bett bin.« Jetzt, da die Buchstaben nicht mehr wie ein Schwall aus ihm herausschossen, war er wieder deutlich reizbarer.
»Ich hab Sehnsucht nach dir, Schatz.«
Sie vergab ihm, dass er sie am Vortag nicht gerade liebevoll behandelt hatte. Oder war das letzte Nacht gewesen? Oder hundert Jahre zuvor? Die Zeit verlor auf Korban Manor jegliche Bedeutung.
»Meine liebe Bridget«, sagte er und verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er jedes einzelne Wort wie eine Schlinge, die sich immer fester um den Hals zieht, in den Raum warf. »Was ist schon deine Einsamkeit verglichen mit dem gewaltigen Verlust, den die Welt erleiden würde, wenn meine Arbeit nicht vollendet wird?«
»Ich weiß, wie wichtig dir das ist. Aber ich bin eben nicht wie du. Ich brauche ab und zu auch ein bisschen Gesellschaft.«
»Sicherlich haben deine zugegebenermaßen unübersehbaren Reize auf der Matratze ihre Berechtigung, aber du kannst deine verworrenen Liebesfantasien auch gern woanders ausleben. Meinen Segen hast du.«
Bridget löste ihre Umarmung. Spence drehte sich im Stuhl, sodass er seine neueste Eroberung bewundern konnte. Ihre ansehnlichen Rundungen wölbten sich unter ihrem Nachtgewand, das sich eng an ihren Körper schmiegte. Ein Prachtstück. Hübsch anzuschauen, aber nutzlos.
»Jeff, ich will aber niemand anderen außer dich. Ich liebe dich .«
Diese Unterhaltung schien wirklich interessant zu werden, eine nette kleine Abwechslung, die ihm das WORT sicherlich verzeihen würde. Selbst Ephram Korban hat sich seinerzeit bestimmt hin und wieder an dem ein oder anderen emotionalen Spielchen erfreut.
»Liebe«, entfuhr es ihm und es war nicht zu überhören, dass nun gleich eine altbekannte Moralpredigt folgen würde. Die bedeutungsschwangeren Worte formten sich in seinen Knochen, erfüllten seine Brust und Lunge, bahnten sich durch seinen Körper hindurch den Weg nach draußen, sprudelten seine Kehle hinauf und ergossen sich aus seinem Mund in den Raum. Es waren weise Worte, die schon oft gesprochen worden waren, aber stets galten sie einer anderen Person.
»Liebe ist die Reinform von Egoismus und Selbstgefälligkeit«, setzte er fort. »Jede Art von Liebe ist schlichtweg Eigenliebe. Ob nun die Liebe zur Mutter, zum Bruder, zum Partner, zu einem Hund oder die Liebe zu Gott. Jede Liebe ist eine Form der Selbstbefriedigung. Und deshalb gebe ich dir meine Zustimmung, dich selbst lieben zu dürfen, denn das scheint es ja zu sein, was du von mir willst.«
»Liebling, sei doch nicht so … so …«.
»Hart? Synonyme: standhaft, unnachgiebig, unflexibel. Ach, wie ich mir wünschte, es wäre so. Der Geist macht sich das zu eigen, was dem Fleisch versagt bleibt.«
»Tu das bitte nicht. Weißt du, mir macht dein— unser —Problem nichts aus.«
Spence lachte, sein ganzer Körper wackelte ekstatisch angesichts der schieren Selbstliebe, die ihn jetzt übermannte. Er streckte seine Hand nach ihr aus und strich ihr übers Haar, klischeehaft wie in einem Liebesroman. Sie seufzte unter seiner Berührung, ihre Wangen waren gerötet, ihre Lippen leicht geöffnet, ihre Haut glühte im Lichte des Feuers wie Honig. Sie kochte vor Erregung.
»Unser Problem«, erwiderte Spence.
Sie war zu weit gegangen. Darauf musste er reagieren.
Er packte ihren Schopf und zerrte sie mit einer Hand zu sich heran. Mit der anderen Hand griff er hinter sich nach dem Manuskript. Er schleuderte ihr die losen Blätter um die Ohren, hoch erfreut über den
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