Die Tunnel der Seele
Geschenk, das ich nur für dich aufgehoben habe. In unserer Seele existieren Tunnel, Selma.«
Der Geist hielt etwas in der linken Hand, etwas, das aussah wie die Beute eines Jägers. Zuerst dachte Anna, es wäre der Blumenstrauß. Aber dann bewegte sich das ominöse Etwas.
Es war seine andere Hand, diejenige, die vorher in Fetzen zerrissen am Ende seines rechten Arms gebaumelt hatte.
Anna robbte durch den Dreck, kämpfte sich mühsam vorwärts. Doch es gab kein Entkommen. Der Geist schleuderte seine abgetrennte Hand in ihre Richtung. Sie landete auf den Fingern und krabbelte wie eine Spinne auf Anna zu. Das Lachen des Geistes hallte über die tristen Hügel hinweg. »Die Hand des Ruhms, Selma.«
Anna drehte sich um, versuchte erneut, auf die Beine zu kommen, aber die Schmerzen waren einfach zu stark, machten ihre Glieder unbeweglich, lähmten ihren Körper.
Die abgerissene Hand umschloss ihren Knöchel.
Erlebte sie das wirklich? Geister hatten keine Substanz, zumindest konnten sie in der realen Welt keine feste Form annehmen.
Aber das IST die reale Welt. Und manchmal kam es nicht darauf an, was man glaubte, sondern WIE VIEL man glaubte.
Sie glaubte an Geister. Sie existierten. Man konnte seinen Glauben nicht einfach ein- und ausschalten wie das Licht.
So ein verdammter Mist.
Nun hatte sie das, was sie schon immer wollte.
Körperlichen Kontakt mit den Toten.
Ihr Knöchel war taub, von stumpfen Rasiermessern umzingelt. Sie fühlte die brennende Kälte, spürte, wie ihre Haut in der sengenden Glut der Schmerzen zerfloss.
Die Finger pressten sich in ihr Fleisch. Anna, flach auf dem Bauch liegend, zuckte zusammen. Sie fuchtelte durch die Luft, griff nach einem Kiefernzweig. Noch ehe sie ihn zu fassen bekam, zog die Hand sie zurück, zerrte sie zum Trümmerhaufen, wo er wartete.
»Komm schon, Selma. Lass den guten alten Georgie nicht warten.« Der Geist sprach jetzt mit einer anderen, tieferen Stimme.
Sie grub ihre Fingernägel in den Boden, krallte sich an den spitzen Steinen und Kiefernadeln fest. Sie ächzte und ihr wurde bewusst, dass sie noch atmete.
Atmete.
Das bedeutete, dass sie noch am Leben war. Noch kein Geist war. Aber wenn diese fürchterliche Gestalt in der Lage war, Geister zu töten, was vermochte er dann mit den Lebenden anzustellen?
Wieder zerrte die Hand an ihr, schleifte sie einen Meter über den feuchten, schmutzigen Boden hinweg. Nasse Blätter drangen unter ihr Shirt und ließen ihren Bauch vor Kälte erschaudern.
Ein bizarres Geräusch überflutete den Bergkamm, wie der Schrei einer sterbenden Taube. Anna schaute zum Geist. Sein Lächeln verzog sich zu einem breiten Grinsen, seine Gestalt wurde in ein leuchtendes Farbenmeer aus Rot, Orange und Gelb getaucht, er strahlte lichterloh, als ob er vom Feuer der Hölle entflammt worden wäre.
Anna kroch noch näher an den Trümmerberg heran, trat verzweifelt nach der Hand, als ob sie einen verfaulten Fisch loswerden wollte. Noch einmal wurde sie über den Boden gezerrt, auf das spitze Ende eines Holzstücks, das sich in die Rückseite ihres Beines drückte. Dieses Ding wollte sie auf den Nägeln, die aus den kaputten Holzbalken herausragten, und auf dem zerrissenen Blechdach aufspießen. Sie sollte auf dem Scheiterhaufen geopfert werden.
Aber warum?
Warum sollte ein Geist
sie
töten wollen?
»Schlangen kriechen des Nachts, Süße«, sagte er. »Schlangen kriechen des Nachts.«
Das scharfkantige Holz bohrte sich in ihr Bein und sandte Tausende Blitze durch ihren Körper. Ein Brett prallte gegen ihre Wirbelsäule und schmetterte über ihr Rückgrat wie der Schlägel eines Xylophons. Glasscherben rissen ihre Kordhosen entzwei und schlitzten ihre Knie auf. Die brennenden Schmerzen in ihrem Bauch stiegen in ihre Brust, kletterten ihren Rücken bis in den Kopf hinauf. Ihre Gliedmaßen glühten wie die heiße Lava eines brodelnden Vulkans. Sie schloss die Augen und sah durch ihre Lider hindurch Lichtblitze zucken, die sie an die Funken eines lodernden Feuers oder das Leuchten von Sternschnuppen erinnerten. Dahinter erblickte sie den schwarzen, scheinbar endlosen Tunnel, und ganz hinten schimmerte die Frau in Weiß.
So fühlt es sich also an zu sterben.
Getrieben von den Prophezeiungen in ihren Träumen war sie nach Korban Manor gekommen, um ihren Geist zu finden. Das war es, was sie wollte. Aber mit diesen Qualen hatte sie nicht gerechnet. Der Trümmerhaufen gab unter ihrem Gewicht nach und noch mehr Scherben, Splitter und Nägel bahnten
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