Die Ueberbuchte
genau das verstehe ich noch weniger«, klagte Dagmar.
Lena lehnte sich entmutigt zurück und schloss einen Augenblick die Augen. Sie atmete schwer und es war ihr anzumerken, wie sehr ihr diese Erinnerung der beglückenden Tage mit Knut zu schaffen machten. »Dagmar, du machst einen entscheidenden Fehler, du gehst in allem zu sehr von dir aus; du beurteilst mich nach deinen eigenen Maßstab, oder besser, nach deinen persönlichen, überwiegend positiven Eheerfahrungen, aber genau darin unterscheiden wir uns gänzlich. Und nun, etwas zu deinem besseren Verständnis; meine beiden Ehen – wobei die Erste nur einige Monate währte, haben mich so vollkommen vereinnahmt, dass mir irgendwann einmal die Puste auszugehen drohte. Ich konnte, nein, ich wollte nicht mehr so halbherzig wie bisher weiterleben. Die Gewissheit, immer mehr nur ein halber, mit sich und der Umwelt unzufriedener Mensch zu sein, unterdrückte kontinuierlich jedes tiefere Gefühl in mir, so dass ich von einem Tag auf den anderen, nur noch ›nein‹ zu alledem sagen konnte – und so entschied ich mich für einen absoluten Neuanfang. Ich wollte endlich einmal den Menschen aus mir machen – den ich auch selbst akzeptieren konnte. Wobei ich mir damals geschworen habe, nie wieder in eine engere Beziehung einzuwilligen – und schon gar nicht in eine Ehe.«
Dagmar saß ganz still da und bewegte sich auch nicht, als Lena längst aufgehört hatte zu sprechen. Die Stille im Zimmer wurde nur vom gleichmäßigen Rauschen der Wellen unterbrochen, welches vom offenen Fenster hereindrang.
»Tja, Dagmar, ich tauge nun einmal nicht zur Ehe«, unterbrach Lena die Stille.
»Unsinn, jede Frau taugt zur Ehe!«, widersprach Dagmar. Und als Lena nichts darauf erwiderte, fragte sie: »Dann bereust du also geheiratet zu haben?«
»Bereut …? Nein – direkt bereut – das wohl nicht. Wie sich höchstwahrscheinlich kaum ein ganzer Lebensabschnitt bereuen lässt. Schließlich entwickeln wir uns permanent weiter. Möglicherweise, ja bestimmt sogar, wäre ich ohne diese umfangreiche Erfahrung ein ganzes Stück ärmer gewesen. Und irgendwann dann, hätte mich vielleicht gerade diese fehlende Erfahrung, in Form von deprimierende Mangelerscheinung, besonders gequält.« Lena lachte plötzlich amüsiert auf. »Ein ziemliches Kauderwelsch, nicht wahr? Aber wie soll ich etwas erklären, was ich mir oft genug selbst nicht erklären kann. Fakt ist, ich habe unter der ständigen Abhängigkeit, der ständigen Vereinnahmung meiner Person, irgendwie keine Luft mehr bekommen.«
»Dann warst du also doch unglücklich?«
»Nein, nein, nicht einmal das! Du lieber Himmel, ich weiß auch nicht wie ich dir das erklären soll.« Sie seufzte. »Weißt du, diesen inneren, unbewusst nebenherlaufenden Prozess, versucht man zu verdrängen, weil er fast immer unbequem ist – und Unbequemlichkeiten, wie du ja weißt, verdrängt man. Mehr lässt sich dazu nicht sagen.«
»Na ja, wenn du es sagst, dann wird es wohl so sein. Ich zum Beispiel, könnte mir ein Leben ohne Ernst nicht vorstellen – das wäre einfach absurd. Und noch schöner, noch erfüllter wäre es gewesen, wenn uns Kinder beschert worden wären – doch leider sollte dies nicht sein.«
Es läutete an der Tür.
»Das kann nur Ernst sein, wahrscheinlich hat er wieder einmal seinen Haustürschlüssel vergessen.« Sie stand auf und ging zur Tür.
Das nahm Lena sogleich zum Anlass, um sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Sie fühlte sich ohnehin ziemlich geschafft, da der Tag alles andere als erholsam war.
Und morgen …? dachte sie bestürzt, als sie ihre restlichen Sachen eingepackt hatte. Was würde Knut sagen, wenn sie vollkommen unerwartet bei ihm auftauchte? Wie mochte er sich überhaupt verhalten? Ob er wohl von sich aus Ruths Besuch erwähnte, oder würde er so tun als wenn nichts gewesen wäre? Und sie, wie würde sie letztendlich reagieren, wenn sie ihn gegenübertrat?
Obwohl die Gedanken das Für und Wider ihres Besuches in den verschiedensten Varianten durchforsteten, um das, was eben noch für gut befunden, im nächsten Augenblick bereits als falsch empfunden, kaum beruhigend wirken konnte. Und da ungehindert ein Gedanke den anderen jagde, wollte sich auch der Schlaf nicht einstellen. – Und als dieser sich irgendwann dann doch einstellte, war es nichts anderes, als eine mehr und minder teuflisch aneinandergereihte Traumlandschaft, ohne jeden Sinn und Verstand. Doch da sie Träume von jeher kategorisch ignorierte,
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