Die Ueberlebende
weiteren Verdächtigen, und sie kann uns nicht sagen, wer dieser Mann, der angebliche Vergewaltiger, gewesen ist.«
»Aber sie hat man auch zu vergiften versucht.«
»Das ist doch ein Kinderspiel. Sie könnte sich selber eine geringe Dosis verabreicht haben, die nicht tödlich sein würde. Vergessen Sie nicht, dass sie ein intelligentes Mädchen ist.«
Mr. Ramnath Singh hatte sich offensichtlich seine Meinung über Durga gebildet, und es gab kaum etwas, das ihn darin erschüttern konnte.
»Was wissen Sie denn nun eigentlich über sie?«
»Dass sie ein eher stilles Mädchen war. Die meisten ihrer Klassenkameradinnen gehen aus, treffen sich mit Jungen, sehen sich Filme an und so weiter. Meine Töchter besuchen dieselbe Schule. Aber sie ist immer einfach nur zum Unterricht und danach wieder nach Hause gegangen. Nicht einmal ins Kino. Sie ist mit dem Wagen in die Schule gebracht und nach Unterrichtsschluss dort wieder abgeholt worden.«
»Und wer, glauben Sie, ist nun tatsächlich für den Tod der Familie verantwortlich?«
»Das ist ja das Sonderbare. Wir wissen, dass sie das Gift gekauft hat, weil sie einige Tage zuvor in einer Apotheke gewesen ist und dort nach Rattengift gefragt hat. Und das ist ja dann auch benutzt worden, um sie alle umzubringen. Aber â¦Â«
»Und wo kommt dann all das Blut her?«
»Entweder hat das Gift nicht gereicht, und sie musste mit dem Messer nachhelfen, oder es gab, vielleicht, möglicherweise, doch noch jemand anderen, der dabei war.«
»Könnte es nicht überhaupt jemand anderes gewesen sein? Der sie als Sündenbock benutzt?«
»Was sollte das Motiv desjenigen sein? Nur sie hatte ein Motiv â sie erbt als letzte Ãberlebende ihrer Familie alles .«
»Ein vierzehnjähriges Mädchen? Schwer zu glauben.«
Er erhob sich. »Reden Sie mit ihr. Das ist für uns alle das Beste.«
»Hatte sie denn keine Freundinnen?«
»Nach dem Verschwinden ihrer Schwester hat sich die Familie ziemlich abgeschottet. Die einzigen Menschen, denen sie zu Hause begegnete, dürften Freunde ihrer Eltern gewesen sein oder vielleicht ihr Hauslehrer, aber das ist zweifelhaft, denn der kam schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Eine Schwägerin lebt in England. Sie war schwanger, als sie Indien verlieÃ, und steht nun zu sehr unter Schock, um herzukommen. Sie machen sich Sorgen wegen des Babys.«
»Was war das für ein Hauslehrer?«
»Für Literatur, glaube ich. Und für Unterricht am Computer. Ein erwachsener Mann, selbst Vater einer Tochter. Wir haben ihn überprüft. Er scheint sauber, nichts Auffälliges, kaum anzunehmen, dass da was ist. Er ist seit Jahren nicht mehr im Haus gewesen, nicht, seit die Schwester verschwunden ist.«
»Und die Familie? Haben Sie sie gekannt?«
»Oh, die kannte doch jeder hier. Gesellschaftlich sehr aktiv. Haben sehr viel Wohltätigkeitsarbeit in Krankenhäusern und Schulen geleistet. Auch sehr religiös. Zu jedem Gurupurab -Fest wurde ein groÃes Mahl gegeben, und die Raagis sangen und musizierten tagelang in ihrem Haus. Von dem ältesten Diener haben wir erfahren, dass es in der Familie möglicherweise einen Streit gegeben hat und dass sie durchgedreht sein könnte, sie war sehr dickköpfig.«
Ich lieà mich seufzend auf meinen Stuhl zurücksinken und sah zu, wie er selbstzufrieden davonmarschierte â was etwas linkisch wirkte, als hätte er Tapetenkleister in den Kniegelenken. Das, was ich von ihm erfahren hatte, hätte ich gröÃtenteils auch den Zeitungsartikeln entnehmen können, die vor mir auf dem Tisch lagen. Meiner Ansicht nach gab es nur eine Möglichkeit, um weiterzukommen: Ich musste Durga dazu bringen, sich mir zu offenbaren. Es würde Mr. Ramnath Singh nur zu sehr befriedigen, wenn ich feststellte, dass ich hier bloà meine Zeit vergeudete und resigniert meine Koffer packte, um zu meiner nächsten sinnlosen Bestimmung weiterzuziehen.
â â â
Als ich an diesem Abend den Besucherraum betrat, wartete sie bereits auf mich. Sie war wiederum mit einem schlichten Salwar Kamiz bekleidet, einem braunen diesmal, und das Haar hatte sie sich nach hinten gekämmt und zu einem strengen Knoten zusammengebunden. Ihre Augen waren geschwollen und gerötet; sie musste wohl geweint haben. Sie bedachte mich lediglich mit einem flüchtigen Blick und wandte sich dann wieder von mir
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