Die Ueberlebende
ihrer Bemühungen, uns zu artigen jungen Damen, für die Kichern und Schwatzen eben verpönt war, zu erziehen. Der Erwerb von Bildung stand für gewöhnlich nicht im Vordergrund, denn viele der Schülerinnen â darunter auch ich â waren von ihren Eltern nur dort untergebracht worden, um ihre Chancen zu verbessern, wohlbetuchte, gut aussehende Heiratskandidaten an die Angel zu bekommen.
Stattdessen verbrachten wir die heiÃen Nachmittage, an denen die Sonne in die Klassenzimmer strahlte, damit, müÃige Ãberlegungen darüber anzustellen, ob die Nonnen Unterwäsche trugen, sich die Beine rasierten und ob sie allesamt lesbisch wären. In Jullundur, wo nie wirklich etwas passiert, erinnert man sich bis heute lebhaft an die Abspaltung Pakistans, und die liegt immerhin schon einige Jahrzehnte zurück. Bis der Terror auch in Jullundur Einzug hielt, hatte man hier in relativer Seelenruhe sein Joghurtlassi und seinen Desischnaps schlürfen können. Christlicher Glaube war etwas völlig Fremdes, wurde aber gerne gebilligt, da er für uns den Schlüssel zur englischen Sprache und damit zu einem besseren Leben darstellte. Bemühungen um eine Christianisierung fanden allerdings kaum statt, und wenn, dann zielten diese primär auf willige Zielgruppen wie die schutzbedürftigen Dalits , die am Rande der Gesellschaft lebenden »Unberührbaren«. Der Ãbertritt zum christlichen Glauben bedeutete für sie so etwas wie einen Freifahrschein in eine verheiÃungsvollere Zukunft: kostenloser Besuch weiterführender Schulen für ihre Kinder, medizinische Versorgung und möglicherweise sogar ein Job. Und wer sich ein bisschen zu artikulieren wusste, konnte sogar darauf hoffen, sein Leben lang in den Diensten des Vatikan stehen zu dürfen. In der gesellschaftlichen Mittelschicht galt das Bekenntnis zum Christentum dagegen als verpönt (obwohl es ein paar Ãberläufer gegeben hatte, die ihren Ãbertritt allerdings in aller Heimlichkeit vollzogen â oft zur Bestürzung der nichtsahnenden Verwandtschaft), und auch Angehörige niederer Stände hielten sich wohlweislich einige Jahre lang bedeckt, was ihr christliches Glaubensbekenntnis betraf.
Als Produkte einer solchen hybriden Religionskultur stimmten wir inbrünstig Choräle an und vollführten sonderbar gez ierte Knickse, wenn wir unsere Finger ins Weihwasser tauchten. Der Höhepunkt eines jeden Gottesdienstes bestand im Bekreuzigen vor dem Abbild des ans Kreuz geschlagenen Jesus, geborgen im Herzen der Jungfrau Maria, das seinerseits wiederum vor lauter unerträglichem Kummer aufgesprungen war und aus dem nun prächtige Tropfen rubinroten Blutes rannen. Man konnte sich ihren Schmerz beinahe auf der Zunge zergehen lassen â wie Erdbeereis.
Alles am Christentum gemahnte uns an unsere eigene heidnische Erziehung, im Rahmen derer wir unser Wissen hauptsächlich aus der Lektüre von Reader â s Digest und Womenâs Weekly bezogen. Während wir daheim gehalten waren, weite Hosenanzüge zu tragen, waren beim Schulgang Röcke und Blusen und sogar Schlipse und Blazer erlaubt, was bedeutete, dass wir uns heimlich die Beine rasieren und darauf achtgeben mussten, dass unsere knospenden Brüste nicht zu offensichtlich in unseren engen weiÃen Blusen hüpften. Es war fast ein Ding der Unmöglichkeit, in einem Sikh-Haushalt an Rasierklingen zu gelangen. Es bedeutete, dass wir an jedem Jahrestag des Martyriums von Guru Arjun Dev unseren Hausdiener mit SüÃspeisen (ja, wir zelebrierten das Abschlagen von Köpfen und das Ausstechen von Augen mit leckerem Kara Parshaad â einer Mehlspeise aus Zucker und dickflüssiger Butter) bestechen mussten â in der Hoffnung, dass er unsere Geheimnisse nicht ausplaudern würde, wenn wir ihn nur gut fütterten.
In der Schule hätten wir als dunkelhaarige Abkömmlinge von Iren, die es aus ihrer Heimat hierher verschlagen hatte, durchgehen können: Uns wurde beigebracht, den Highland Fling zu tanzen, und wir wurden ermuntert, uns in Wettbewerben in Redekunst und im Schultheater zu engagieren. Komischerweise jedoch â und da ist es den meisten Mädchen, mit denen ich zusammen aufgewachsen bin, nicht anders ergangen â hat mich zu Hause nie jemand gebeten, etwas vorzutanzen oder auch nur meine Meinung zu etwas zu äuÃern. Mein Vater vergrub sich viel zu sehr in seine Arbeit, und meine Mutter war viel zu
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