Die Ueberlebende
umzusehen.
»Ich kann Ihnen die Nummer seines Mobiltelefons geben«, bot ich ihr an.
Das überzeugte sie davon, dass an meiner Behauptung etwas dran sein musste. Ein solches Kleinod wie die Handynummer eines hochgestellten Bürokraten wurde schlieÃlich nicht an jedermann verteilt.
»Na, schön«, sagte sie widerwillig. »Ich darf Sir nicht auf seinem Mobiltelefon stören, aber ich werde versuchen, in seinem Büro jemanden zu erreichen. Wie ist Ihr Name?«
»Simran Singh«, sagte ich und überlegte unterdessen bereits, wie ich an ihr vorbei ins Haus käme.
Während wir miteinander sprachen, hörte ich in der Ferne die ganze Zeit ein hämmerndes Geräusch, als würde jemand Nägel in eine Wand einschlagen.
Die Frau vor mir schien sich nicht ganz sicher, wie sie mit mir verfahren sollte. Während das Hämmern immer lauter wurde, wies sie mich an, auf der Veranda zu warten, während sie hineinging, um ihren Anruf zu machen. Ich nickte und setzte mich brav und fügsam auf einen Stuhl. Sowie sie im Haus verschwunden war, machte ich jedoch rasch einen Schritt auf die erste Tür im Korridor zu und versuchte, sie zu öffnen. Und dabei hörte ich sie dann â sehr, sehr deutlich. Mir blieb das Herz beinahe stehen.
Es war ein grässliches Geräusch, dem ein stetig lauter werdendes Crescendo von Schreien aus dem Inneren des Hauses folgte.
Ich brauchte einen Zeugen. Ich gab dem Taxifahrer ein Zeichen, zu mir zu kommen.
»Ich gehe rein«, sagte ich, während er angesichts des ohrenbetäubenden Geschreis ziemlich erschrocken dreinblickte. Es klang wie ein gequältes Tier. »Sie müssen mich begleiten.«
Er schien mehr als verunsichert. Am liebsten hätte ich ihm für seine Unentschlossenheit eine Ohrfeige gegeben, doch stattdessen biss ich die Zähne zusammen und sagte mit so ruhiger Stimme wie möglich und ohne ein Anzeichen von Panik: »Möglicherweise ist da drinnen jemand verletzt. Ich will wissen, was da los ist. Es kann sein, dass ich Ihre Hilfe benötige.«
Immerhin schlich er sich hinter mir durch die Tür. Das Haus hatte hohe Decken und lag ganz und gar im Dunkeln; die einzige Lichtquelle waren die Deckenventilatoren über unseren Köpfen.
Wir fanden sie unerwartet schnell. Die Tür war nicht verschlossen, und die Frau, die mich vor dem Haus aufgehalten hatte, stand über die auf dem Bett ausgestreckte Gestalt gebeugt da.
Sobald ich sie sah, erkannte ich sie.
Das wirre Haar, der stumpfe, zur Decke gerichtete Blick. Der unerträglich abgemagerte Körper, die Narbe im Gesicht. Nur, dass sie jetzt, anders als auf dem Foto, bekleidet war.
Gott sei Dank war Durga das erspart geblieben, war mein erster Gedanke.
Sie war an das Bett gekettet, und ihre geballten Fäuste öffneten sich ständig und verkrampften sich dann wieder, während sie unverständliche Worte hervorstieÃ, deren Bedeutung wohl nur sie allein kannte. Mit diesen Lauten schrie sie immer und immer wieder die ganze Wut heraus, die sich über die Jahre in ihr aufgestaut hatte, ohne irgendetwas damit zu bewirken. Ihr Kopf wälzte sich von der einen Seite auf die andere, und ihre leeren Augen öffneten und schlossen sich abwechselnd, während sie einem unsichtbaren Gegenüber durch endloses Wiederholen dieses Zyklus etwas von ihrem Elend mitzuteilen versuchte. Wenn sie versuchte, sich in dem Bett aufzubäumen, stieà sie mit dem Hinterkopf gegen das Kopfbrett. Aus einem Winkel ihres Mundes troff Speichel, während sich die einmal so weich und so schön gewesenen Lippen wie bei einem knurrenden Tier verzerrten, wenn sie ihren Zorn und ihre Hilflosigkeit hinausbrüllte.
Ich konnte nicht erkennen, ob es sich um den gleichen Raum handelte wie auf dem Foto, aber zumindest schien hier jemand sauberzumachen, und die Frau, die ihre Pflegerin zu sein schien, strich ihr über die Stirn und gab sich offenbar alle Mühe, das Mädchen zu besänftigen.
»Sharda.« Ich betrat das Zimmer.
Die Frau, die sich um sie kümmerte, fuhr erschrocken herum.
»Bitte verlassen Sie das Zimmer«, sagte sie, doch sie schien zu ahnen, dass ich das nicht tun würde.
»Warum haben Sie sie gefesselt?«
»Das ist die einzige Möglichkeit, sie festzuhalten. Wenn wir sie freilassen, läuft sie in der Gegend herum und greift sich kleine Kinder, die sie dann versteckt. Sie hat Shantis Sohn einen Tag lang in einem
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