Die Überlebenden der Kerry Dancer
daß er die Verantwortung habe für das Rettungsboot und für das Leben von zwanzig Menschen. Und wenn diese Mahnung nicht eindringlich genug war, dann dachte er an den Kleinen, der keinen Meter von ihm entfernt schlief, und dann war er sofort wieder hellwach. So verstrich unendlich langsam eine Nacht, die wie die Zusammenfassung aller schlaflosen Nächte schien, die er jemals erlebt hatte. Schließlich, nach langer, langer Zeit, begann das erste schwache Grau den Horizont im Osten zu erhellen.
Nach einigen Minuten konnte er schon den Mast vor dem dämmernden Himmel erkennen, dann die Linie des Dollbords, und dann die einzelnen Gestalten der Schläfer, die im Boot lagen. Zunächst sah er zu dem Jungen hin. Er lag noch in friedlichem Schlaf, dicht neben ihm hinten im Heck, eingewickelt in eine Decke; sein Gesicht war nur eine undeutliche, weiße Fläche in der Dunkelheit, sein Kopf ruhte wie auf einem Kissen auf dem angewinkelten Arm von Gudrun Drachmann, die nach wie vor da unten saß, in einer ziemlich unbequemen Stellung, den Kopf gegen die Ruderbank gelehnt. Nicolson bückte sich zu ihr hinunter und sah, daß die harte Kante der Bank sich in ihre rechte Wange drückte. Vorsichtig hob er ihren Kopf hoch, nahm eine Ecke der Decke und legte sie doppelt zwischen die Bank und ihr Gesicht. Dann, in einer sonderbaren Anwandlung, schob er sanft das dichte, blauschwarze Haar zurück, das ihr ins Gesicht gefallen war und die lange Narbe verdeckte. Einen Augenblick lang ließ er seine Hand leicht auf der Narbe liegen; dann sah er in dem dämmrigen Licht das Schimmern ihrer Augen und erkannte, daß sie wach war. Er spürte keinerlei Verlegenheit, fühlte sich nicht ertappt, sondern sah nur lächelnd und wortlos zu ihr hinunter; sie mußte wohl in der Dunkelheit seines gebräunten Gesichts das weiße Leuchten seiner Zähne gesehen haben, denn sie erwiderte das Lächeln, rieb ihre vernarbte Wange zweimal sacht gegen seine Hand und richtete sich langsam auf, wobei sie sorgsam darauf achtete, den schlafenden Jungen nicht zu wecken.
Das Boot lag tief im Wasser, das Wasser im Innern des Bootes stand bereits sechs oder sieben Zentimeter hoch über den Bodenbrettern. Nicolson war sich darüber klar, daß es an der Zeit wäre, zu schöpfen, daß es sogar höchste Zeit war. Doch Wasserschöpfen war ein Geschäft, das Lärm machte, und er sah nicht ein, weshalb er die Schläfer dem Zustand des Vergessens entreißen und mit der harten Realität des kommenden Tages konfrontieren sollte. Das Boot konnte noch mindestens eine Stunde schwimmen, auch ohne daß geschöpft wurde. Gewiß, einigen stand das Wasser bis an die Knöchel, und einer oder zwei saßen praktisch im Wasser. Doch das waren Unbequemlichkeiten, die unbedeutend waren im Vergleich mit dem, was sie alle zu erleiden haben würden, bis die Sonne das nächste Mal unterging.
Dann aber sah er plötzlich etwas, das jeden Gedanken an müßiges Nichtstun, jeden Gedanken an Schlaf verscheuchte. Hastig rüttelte er McKinnon wach – es blieb ihm nichts anderes übrig, denn McKinnon hatte sich im Schlaf gegen ihn gelehnt und wäre umgefallen, wenn Nicolson aufgestanden wäre, ohne ihn zu wecken –, dann stieg er über die achterliche Ducht und kniete sich auf die tiefer gelegene Mastducht. Dort lag der Vollmatrose Jenkins, der sich so schrecklich verbrannt hatte, in einer höchst merkwürdigen Stellung, halb geduckt und halb kniend, die blutig aufgescheuerten Handgelenke noch immer an der Ducht festgebunden und den Kopf vornüber geneigt. Nicolson beugte sich über ihn und rüttelte ihn an der Schulter; Jenkins fiel noch weiter auf die Seite, machte aber sonst keine Bewegung. Nicolson rüttelte ihn erneut, diesmal noch heftiger, und rief ihn beim Namen; doch Jenkins war nicht mehr wachzurütteln, und er würde es auch nie mehr hören, wenn man ihn beim Namen rief. Er war zufällig oder absichtlich – vermutlich mit Absicht, und trotz dem Strick, mit dem er angebunden war – irgendwann im Laufe der Nacht von der Ducht heruntergerutscht und in den paar Zentimetern Wasser, das über den Bodenbrettern stand, ertrunken. Nicolson richtete sich auf und sah zu McKinnon hin. Der Bootsmann begriff sofort und nickte. Es würde nicht gerade zur Hebung der Moral beitragen, wenn die Überlebenden beim Erwachen in ihrer Mitte einen Toten vorfanden. Wenn sie Jenkins jetzt still und leise über Bord hievten, ohne jedes Zeremoniell, so schien das ein kleiner Preis, den sie dafür entrichteten,
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