Die Überlebenden der Kerry Dancer
jetzt schon endlose Tage lang, regungslos auf dem Wasser. Daß sie sich in diesen Tagen trotzdem viele Meilen weit nach Süden bewegt hatten, darüber war sich Nicolson klar; denn der Strom lief praktisch das ganze Jahr hindurch von der Banka-Straat in genau südlicher Richtung zur Sunda-Straße. Aber irgendeine Bewegung des Bootes durch das Wasser, das sie rings umgab, war mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen.
Und genausowenig, wie sich das Boot auf der Oberfläche des Meeres bewegte, bewegte sich irgend jemand an Bord. Jetzt, da die Sonne sich dem Zenit näherte, hatte schon die geringste Anstrengung Erschöpfung zur Folge, ließ die Menschen keuchend nach Luft schnappen, daß der Atem durch knochentrockene Münder und rissige, mit Blasen bedeckte Lippen pfiff. Von Zeit zu Zeit ging der kleine Peter im Boot herum und unterhielt sich mit sich selbst in seiner eigenen, nur ihm verständlichen Sprache. Doch in dem Maße, wie der Tag vorrückte und die heiße, feuchte Luft immer drückender wurde, nahm sein Tätigkeitsdrang und sein Plappern mehr und mehr ab, bis er schließlich zufrieden war, still in Gudruns Schoß zu liegen und nachdenklich nach oben in das helle Blau ihrer Augen zu sehen. Allmählich wurden ihm die Lider schwer, die Augen fielen ihm zu, und er schlief ein. Nicolson streckte in stummer Geste die Arme aus, um ihr anzubieten, ihr den Kleinen abzunehmen, damit sie sich ausruhen könne. Sie aber schüttelte nur lächelnd den Kopf. Nicolson machte sich mit plötzlichem Erstaunen klar, daß sie fast immer lächelte, wenn sie etwas sagte. Es kam auch vor, daß sie einmal nicht lächelte; bisher hatte er jedoch noch nicht einen Ton der Klage von ihr gehört und auf ihrem Gesicht noch nie einen mißvergnügten Ausdruck gesehen. Er bemerkte, wie die Augen des Mädchens sonderbar forschend auf ihn gerichtet waren, und zwang sich zu einem Lächeln. Dann sah er beiseite.
Von der Bank an Steuerbordseite war von Zeit zu Zeit leises Stimmengemurmel zu hören. Wie es der Brigadier und Miss Plenderleith fertigbrachten, immer wieder neuen Gesprächsstoff zu finden, war für Nicolson völlig schleierhaft. Jedenfalls, sie fanden ihn, und sogar reichlich. In den Pausen der Unterhaltung saßen sie einfach da und sahen einander in die Augen, und die ganze Zeit hielt der Brigadier ihre abgemagerte Hand. Noch vor zwei oder drei Tagen war das Nicolson komisch erschienen, und im Geist hatte er den Brigadier vor sich gesehen, wie er – in einer friedlicheren idyllischen Vergangenheit – im Frack, mit weißer Schleife und einer Nelke im Knopfloch, Haar und Schnurrbart ebenso pechschwarz, wie sie jetzt schneeweiß waren, wartend an der Tür des Bühneneingangs stand, während auf der Straße eine Pferdedroschke hielt. Inzwischen aber war es ihm nicht mehr möglich, etwas Komisches daran zu finden. Das Ganze war sehr still und sehr rührend, ein altes Liebespaar, das geduldig und ohne jede Angst das Ende erwartete.
Langsam ließ Nicolson seinen Blick weiter die Runde durch das Boot machen. Er konnte gegenüber gestern keine wesentliche Veränderung entdecken, abgesehen davon, daß alle noch geschwächter und erschöpfter waren und kaum noch die Kraft hatten, sich soweit zu bewegen, um den Schutz der vereinzelten Schattenflecke zu erreichen, die die Reste der Segel gaben. Sie waren am Ende. Man brauchte kein erfahrener Arzt zu sein, um zu erkennen, daß es bei diesen Menschen von der Gleichgültigkeit zur Leblosigkeit in der Tat nur noch ein sehr kurzer Schritt war. Einige von ihnen waren mittlerweile so herunter, daß es für sie eine ausgesprochene Anstrengung bedeutete, sich zu ermuntern, ihre mittägliche Wasserration in Empfang zu nehmen; und dann war es dem einen oder anderen nur unter größten Schwierigkeiten möglich, das Wasser herunterzuschlucken. Noch achtundvierzig Stunden, und die meisten von ihnen würden nicht mehr am Leben sein. Nicolson, der immer noch seinen Sextanten bei sich hatte, wußte ziemlich genau, wo sie sich befanden: in der Nähe des Noordwachter Leuchtfeuers, rund fünfzig Meilen genau östlich vor der Küste von Sumatra. Wenn es nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden Wind oder Regen gab, dann würde es unwichtig geworden sein, ob es überhaupt noch jemals Regen oder Wind gab.
Der einzige erfreuliche Posten auf der Habenseite war der Gesundheitszustand des Kapitäns. Er war kurz nach Hellwerden aus seiner Ohnmacht erwacht und schien entschlossen, das Bewußtsein nicht wieder zu
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