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Die Ueberlebenden von Mogadischu

Titel: Die Ueberlebenden von Mogadischu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Rupps
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Lebende zu stoßen, als gering ansieht und ihm die Aktion zu teuer wird. Die Bohrer verstummen. Wer jetzt noch unten ist, bleibt es vermeintlich auch.
    In Lengede läuten die Totenglocken. Eine Trauerfeier wird terminiert und vorbereitet. Bergarbeitern aus Lengede fällt ein, dass in einen bestimmten Hohlraum, den sie gut kennen, in den soge 87 nannten »Alten Mann«, noch nicht gebohrt wurde. Sie wollen, dass noch ein letzter Versuch gemacht wird. Die Presse verbündet sich mit ihnen und baut öffentlich Druck auf. Der Hüttendirektor lässt noch einmal den Bohrer kommen. Die Helfer lassen Mikrofone in die gebohrten Hohlräume hinab. Aus den Lautsprechern oben kommen Geräusche von Klopfzeichen. Die Überlebenden im »Alten Mann« sind gefunden. 224 Stunden nach der Katastrophe beginnt die Versorgung der in der Finsternis hungernden und frierenden Menschen.
    Zum Helden von Lengede wird der Hauer Bernhard Wolter, der namens seiner Kameraden mit den Rettern Kontakt hält. Er ist körperlich noch nicht so geschwächt wie die meisten und kann sich gut ausdrücken. Er darf vom »Alten Mann« aus sogar mit dem Bundeskanzler reden, damals Ludwig Erhard, der erst jetzt, da die Rettung bevorsteht, an die Unglücksstelle kommt. »Meine lieben deutschen Landsleute«, sagt er in die Tiefe, »ich glaube, alle deutschen Herzen sind im Augenblick bei Ihnen.« Nicht, was er ihnen sagt, ist wichtig, sondern dass er ihnen überhaupt etwas sagt. Die Presse hatte »Lengede« zu einer nationalen Tragödie erklärt, der Bundeskanzler bekräftigt diese Sicht auf die Dinge, indem er persönlich erscheint.
    Die Deutschen fühlen mit den Eingeschlossenen, lautet die Botschaft, und was noch wichtiger ist: Sie haben das technische Know-how, die Eingeschlossenen nach oben zu holen. Deutsche Ingenieurskunst, pionierhaft auf diesem Feld, gibt den Ausschlag.
    Vier Tage später sind alle, die in diesem Hohlraum überlebt haben, immerhin elf von 21 , gerettet. Bernhard Wolter kommt als Letzter, nach 336 Stunden und 18 Minuten, heraus aus der Erde. Insgesamt 29 der 129 Arbeiter bleiben nach dem Einsturz der Grube unten.
    Das Grubenunglück 2010 in der Mine San José nahe der chilenischen Stadt Copiapó bewegte auch die Herzen vieler Deutschen. »Lengede« ist mit seiner Dramatik und seinem glücklichen Ausgang durchaus vergleichbar damit.
      88 Zwischen dem Grubenunglück von Lengede und dem dritten und letzten Heimkehr-Erlebnis der alten Bundesrepublik, dem Eintreffen der »Landshut«-Geiseln in Frankfurt, gibt es viele Parallelen. Die Eingeschlossenen 55 Meter unter der Erde und in einer Lufthansa-Maschine über den Wolken hatten mit dem Schlimmsten rechnen müssen, mit ihrem eigenen Tod. Die Angehörigen mussten sich mit dem Gedanken des Abschiednehmens vertraut machen. Und selbst wenn die Gruppe gerettet würde, war nicht sicher, dass alle Mitglieder dieser Gruppe am Leben bleiben würden. Es konnte bis zum letzten Augenblick etwas Schlimmes passieren – wie die Beinverletzung der Stewardess Gabriele Dillmann. Deutsche Präzisionsarbeit bringt die Rettung.
    Beide Heimkehr-Erlebnisse finden im Dreieck von privatem Leben der Betroffenen, einer Medienöffentlichkeit und der Politik statt. Die deutsche Bevölkerung ist interessierter, von der Faszination der Bilder gefesselter Zaungast.
    »Lengede« und »Mogadischu« kennen einen von Presse und Rundfunk gekürten »Helden« und eine von Presse und Rundfunk gekürte Heldin.
    Die Heldin von Mogadischu, Gabriele Dillmann, erscheint am Nachmittag des 18.   Oktober 1977 als erste der befreiten Geiseln in der geöffneten Flugzeugtür. Beifall von etwa 1000 Schaulustigen brandet auf. Auch einige hundert Fotografen und Journalisten von Presse und Rundfunk sind dabei, für sie wurde eigens eine Behelfstribüne errichtet. Dicht gedrängt, gleich in mehreren Reihen, kommen die Geiseln (mit Ausnahme von sechs, die noch nicht transportfähig sind) die Gangway herab. Einige werden von ihren Partnern oder von anderen Frauen und Männern gestützt. »Ihre Gesichter sind gelöst«, heißt es am nächsten Tag in der Welt , »doch von der Anspannung, der Angst, der Ungewissheit der vergangenen Tage und Nächte, als sie sich in der Hand der Luftpiraten einem ungewissen Schicksal ausgeliefert sahen, gezeichnet.«
    Die meisten tragen an diesem Dienstag die Freizeitkleidung, die sie seit dem vergangenen Donnerstag getragen haben. Viele haben 89 sich in Decken gehüllt, weil sie an diesem kühlen Oktobertag frösteln.

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