Die Übermacht - 9
Sitzplätze hatte man verzichtet. Es waren einfachste Gefängniszellen auf Rädern; die Seitenwände und die Decke bestanden aus eng stehenden Gitterstäben. Man hätte sie mit Segeltuchplanen abdecken können. Doch im Augenblick waren diese Planen hinter den Kutschböcken zusammengerollt. Jeder dieser Karren wurde von zwei Hügeldrachen gezogen, groß wie terranische Elefanten, aber mit länger gestreckten Leibern und sechs Beinen. Diese Tiere konnten beachtliche Geschwindigkeiten erreichen und waren bemerkenswert ausdauernd.
Die Türen der Gefängniskarren wurden zugeschlagen und verriegelt. Weitere Befehle wurden gebrüllt. Dann setzte sich die Kolonne der Karren langsam in Bewegung. Es gab nichts, was dagegen gesprochen hätte, die Karren zu federn. Das wusste Merlin. Man hatte sie bewusst so konstruiert und dabei nur ein einziges Ziel verfolgt: Man wollte den Gefangenen die lange Fahrt nach Zion so qualvoll gestalten wie möglich ... und jeder, der diese Kolonne zu Gesicht bekäme, sollte mit eigenen Augen sehen, wie unerträglich eine solche Fahrt war.
Das ist der Grund, warum sie die Gefangenen nicht auf dem Seeweg befördern wollten , sinnierte Merlin verbittert. Sie schicken sie über den endlos langen Weg über Land, damit sie in jeder Stadt und jedem Dorf anhalten und ihre Beute zur Schau stellen können. Sie wollen jedem einzelnen Dörfler Gelegenheit geben, die ›Ketzer‹ zu sehen. Jeder Dörfler soll wissen, dass sie sich auf dem Weg zum Tempel befinden, wo sie die Strafen Schuelers erwarten. Sie sind einfach als Anschauungsobjekte für Clyntahn viel zu wertvoll. Warum sollte er sich die Gelegenheit entgehen lassen, indem er sie per Schiff nach Zion bringen ließe? Gott allein weiß, wie viele von ihnen auf dem Weg sterben werden. Und ich kann nicht das Geringste unternehmen. Ich kann nicht einmal die Gefängnisschiffe versenken, um ihnen zu ersparen, was in Zion auf sie wartet.
Merlin schaute zu, wie die Kolonne schwerfällig weiterfuhr, die Gorath verließ und nach Norden aufbrach. Seine Hilflosigkeit widerte ihn an. Nur selten, weder in Nimue Albans noch in seinem Leben, hatte es etwas gegeben, das ihn so sehr angewidert hatte. Doch während er zuschaute, wie der Tross aus Gefängniskarren sich weiterschleppte, legte er sich selbst ein feierliches Versprechen ab.
Sir Gwylym Manthyrs Worte sollten Wirklichkeit werden. Das, was Ferayd über sich hatte ergehen lassen müssen, wäre nichts im Vergleich zu dem, was Gorath bevorstand.
.VII.
Königlicher Palast, Manchyr,
Fürstentum Corisande
Dieses Mal wäre der Thronsaal nicht Ort des Geschehens.
In mancherlei Hinsicht wäre das Sharleyan lieber gewesen. Doch es galt, Traditionen zu brechen. Prinz Hektors Vorstellung von einem Gerichtsverfahren bestand darin, dass der Angeklagte sein Urteil erhielt, nicht etwa darin, sich mit belanglosen Kleinigkeiten wie dem Beweis seiner Schuld oder Unschuld aufzuhalten. Gerichtsverhandlungen waren für Hektor eine lästige, unschöne Formalität, die hin und wieder damit endete, dass der verwünschte Angeklagte einfach straflos davonkam – und dafür hatte er den Übeltäter ja nicht festnehmen lassen! Da war es doch viel effizienter und direkter, ihn einfach vor den Thron zerren zu lassen und ihn zu verurteilen, ohne dieses ganze unnötige Hin und Her!
Die überwiegende Mehrheit von Hektors Untertanen hatte diese Art der Rechtsprechung weder für sonderlich willkürlich noch für unnötig grausam gehalten. Ihr Fürst hatte dafür gesorgt, dass die öffentliche Ordnung gewahrt blieb. Er hatte verhindert, dass der Adel die Bürgerlichen übermäßig zu Sündenböcken machte. Er hatte die Eigentumsrechte der Händler und Bankiers geschützt und auch dafür gesorgt, dass der allgemeine Wohlstand erhalten blieb und seine Armee fast ausschließlich Menschen auf den Ländereien anderer Regenten umbrachte. Theoretisch hatte natürlich immer die Möglichkeit bestanden, die Rechtsprechung der Kirche anzurufen. Aber das war nur selten geschehen ... und dann meistens erfolglos. Im Großen und Ganzen also hatten die Corisandianer angenommen, dass jemand, den Prinz Hektor ins Gefängnis werfen oder hinrichten lassen wollte, das auch verdient hatte (wenn nicht für das Vergehen, dessen er angeklagt war, dann eben für ein anderes, das er zu einem anderen Zeitpunkt begangen hatte und seinerzeit straflos davongekommen war).
Bedauerlicherweise hieß das, dass jede Anklage einer Verurteilung gleichkam. Das wiederum
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