Die Übermacht - 9
man immer noch nicht, was man denn nun davon halten solle. Doch eines wusste man hier jetzt sehr wohl: Sharleyan Ahrmahk, Corisandes Erzfeindin, war von einem gänzlich anderen Schlag als Zhaspahr Clyntahn – oder auch Hektor Daykyn. Vielleicht war sie immer noch ›der Feind‹ – zumindest, wenn man es genau nahm. Gewiss war sie ein fremder Potentat, der dieses Fürstentum mit Waffengewalt erobert hatte. Aber zugleich hatte sie bei ihrem Besuch hier in Manchyr auch noch etwas anderes erobert: die Herzen der Bevölkerung.
»Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, Eure Majestät!«, sagte General Hauwyl Chermyn und blickte durch die Fensterscheibe der Kutsche auf die Straße. An sich hatte er Sharleyan zu Pferde begleitet wollen, als Teil ihrer Sicherheitseskorte. Die Kaiserin aber hatte darauf bestanden, dass er sich zu ihr in die Kutsche setzte. Fassungslos schüttelte er den Kopf und winkte mit einer Hand den jubelnden Menschen zu, die sich entlang der ganzen Prachtstraße versammelt hatten, vom Palast bis hinunter zum Pier. »Ich weiß noch genau, wie diese Leute sich verhalten haben, kurz nachdem Hektor ermordet worden war. Wenn Ihr damals nach Manchyr gekommen wäret, hätte ich keine Kupferstück aus Harchong auf Euer Überleben gesetzt!«
Die Miene des wettergegerbten Marines war jetzt grimmig, und Sharleyan lächelte ein schmales Lächeln. Tiefe Falten durchzogen Chermyns Gesicht, allesamt Falten, die er noch nicht gehabt hatte, bevor Cayleb ihn zum Vizekönig-General des Kaiserreichs in Corisande gemacht hatte. Sein dunkles Haar war während dieser Zeit gänzlich ergraut, und auch sein buschiger Schnurrbart war beinahe weiß geworden. Doch seine braunen Augen waren so wachsam und munter wie immer, und sein breitschultriger, muskulöser Körper wirkte nach wie vor unerschütterlich und robust. Und so sollte es sein , ging es Sharleyan durch den Kopf. Denn hätte man sie aufgefordert, Hauwyl Chermyn mit einem einzigen Wort treffend zu beschreiben, so wäre es ›robust‹ gewesen.
»Na ja, den Berichten nach, die ich eingesehen habe, haben wir ein Gutteil davon Ihnen zu verdanken, General«, sagte sie. Die Kutsche rumpelte über einen lockeren Pflasterstein, und Sharleyan verzog gequält das Gesicht, als Schmerz ihre immer noch nicht verheilten Rippen durchzuckte.
»Aber wenn ich meine Arbeit ein bisschen besser erledigt hätte, Eure Majestät«, grollte er, denn ihre Schmerzen waren ihm nicht entgangen, »hätte ich diesen Dreckskerl Hainree – verzeiht meine Ausdrucksweise! – geschnappt, lange bevor er Euch beinahe umgebracht hätte!« Für einen kurzen Moment war sein Gesicht ebenso eisengrau geworden wie sein Haar. »Seine Majestät wird mir niemals vergeben, dass ich Derartiges habe geschehen lassen!«
»Sie meinen, Sie selbst werden sich das nie vergeben«, widersprach Sharleyan und beugte sich dann dem General, der ihr in der Kutsche gegenübersaß, ein wenig entgegen und tätschelte ihm das Knie. »Und das ist sehr töricht von Ihnen! Niemand hätte hier bessere Arbeit leisten können als Sie! Aber was ich auch sage, es würde nichts ändern, nicht wahr?« Nun war es an ihr, den Kopf zu schütteln. »Was Ihre Pflichten betrifft, sind Sie nicht gerade sonderlich vernünftig, General!«
»Es ist sehr nett von Euch, das zu sagen, Eure Majestät«, gab Chermyn zurück, »aber jetzt seid Ihr zu freundlich zu mir! Wäre Seijin Merlin nicht gewesen, dann hätte dieser Kerl Euch erwischt. Zuerst war ich mir sogar sicher, dass er Euch wirklich erwischt hat – und allen anderen ist es wohl genauso gegangen.«
»Cayleb und ich stehen beide tief in Merlins Schuld«, bestätigte Sharleyan. »Es ist eine Art Schuld, die man nur schwer abzuzahlen vermag.«
»Das ist nicht die Sorte Schuld, die man überhaupt abzahlen oder vergelten kann, Eure Majestät«, erwiderte Chermyn. »Darum geht es doch gerade bei der Pflicht! Einen solchen Dienst kann man nur vergelten, indem man sich seiner würdig erweist! Dann ist ein solcher Dienst auch der einzige Dienst, der wahrhaftig zählt, wenn Ihr mir gestattet, das so auszudrücken. Aber ich muss sagen«, er blickte seiner Kaiserin geradewegs in die Augen, »dass Ihr und Seine Majestät Euch dabei bislang ziemlich gut geschlagen habt.«
»Um Sie zu zitieren, General: Es ist sehr nett von Ihnen, das zu sagen«, entgegnete Sharleyan und bemerkte, dass im Schutze des Schnurrbarts die Mundwinkel des Vizekönig-Generals ein wenig
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