Die Übermacht - 9
waren, der Bevölkerung keinerlei unnötige Repressalien aufzubürden. Doch allzu viele glaubten Prinz Hektors Blut an den Händen des Hauses Ahrmahk kleben zu sehen. Alle wussten, wie erbittert Sharleyan von Chisholm Hektor gehasst hatte. Sie, so glaubten sie, gebe Fürst und damit auch Fürstentum die Schuld am Tod ihres Vaters.
Bei Sharleyans Ankunft hatten die gejubelt, die dankbar dafür waren, dass Ruhe, Ordnung und Stabilität nach Corisande zurückgekehrt waren und dass die charisianischen Besatzungstruppen sich zivilisiert benahmen ... bislang wenigstens. Der Jubel hatte nicht bedeutet, dass man sich dauerhaft mit der Oberherrschaft der Charisianer abgefunden hätte oder kurz davor stünde, treue Untertanen von Charis zu werden. Aber der Jubel hatte die Bereitschaft des Volkes gezeigt, erst einmal abzuwarten.
Gleichzeitig jedoch waren die Befürchtungen groß gewesen, was der gefährlichste Feind Prinz Hektors mit dessen Fürstentum im Sinne haben könnte. Schließlich konnte Charis an ihm selbst nun nicht mehr Rache nehmen. Angesichts der unerbittlichen Feindschaft gegen Corisande, die man Sharleyan nachsagte (gegründet auf Hektors Propaganda gegen sie), hatte man dort gebetet und zaghaft gehofft, Kaiser Cayleb möge sein Versprechen ernst meinen, er werde das unterworfene Volk nicht mit Gewalt unterdrücken oder schinden und keine unnötigen oder gar willkürlichen Gewaltexzesse dulden. Man hatte auch gehofft, Sharleyan würde sich ebenfalls an das Wort des Kaisers gebunden fühlen und seine Versprechen ihrerseits einhalten. Schließlich war sie seine gleichberechtigte Mitregentin. Aber ob das Kaiserpaar den Worten auch Taten folgen ließe ...
Dass über die des Hochverrats Beschuldigten vor corisandianischen Gerichten verhandelt worden war, hatte Hoffnung gemacht. Bürger, Adelige und Priester aus Corisande sprachen Recht, nicht etwa ein Militärgerichtshof der charisianischen Besatzer – immerhin! Doch trotz all der Jubelrufe zur Begrüßung der Kaiserin, trotz all der Banner, die zu ihren Ehren in den Straßen gehisst worden waren, hatte man doch eines genau gewusst: Was immer Sharleyan Ahrmahk wünschte, für die Angeklagten wie für Corisande, würde geschehen.
Genau deswegen war der Jubel am heutigen Tag anders: Sharleyan hatte entscheiden können, wie immer sie wollte ... und sie hatte sich dafür entschieden, sich an das geltende Recht des Fürstentums zu halten, so wie ihr Gemahl das versprochen hatte. Es hatte keine heimlichen Festnahmen gegeben, keine Urteile aufgrund von Geständnissen, die unter der Folter abgepresst worden waren, keine anonymen Ankläger, die den Beschuldigten niemals persönlich ins Gesicht gesehen hatten: Rechtmäßige Verhandlungen hatten stattgefunden, bei denen rechtmäßige Urteile gefällt worden waren. Gewiss, fast alle Angeklagten waren schuldig befunden worden. Dennoch war das hier etwas anderes: Die Beweise – die eindeutigen, unzweifelhaften Beweise – waren schlichtweg erdrückend gewesen. Niemand bezweifelte, dass jemand, der vor Prinz Hektor des Hochverrats angeklagt worden wäre, ebenfalls einen Schuldspruch erhalten hätte. Doch zugleich zweifelte auch niemand daran, dass sich Hektor dabei kaum um so unbedeutende Dinge geschert hätte wie Beweise.
Ja, Sharleyan hatte einige der Urteile, zu denen das Gericht gekommen war, aus ihrer Machtposition heraus aufgehoben. Aber anders als Hektor hatte sie das nicht getan, um diejenigen doch noch zu verurteilen, die man vor Gericht eigentlich freigesprochen hatte. Stattdessen hatte sie fast ein Viertel derjenigen begnadigt, die zuvor schuldig gesprochen waren. Und das nicht, weil Zweifel an ihrer Schuld bestanden hätte, sondern weil sich Sharleyan bewusst dafür entschieden hatte, sie zu begnadigen. Es war auch keine Generalamnestie, durch die sämtliche Gefängnisse von einem Tag auf den anderen menschenleer geworden wären, wie sie manche Regenten als großzügige Geste erließen: anlässlich ihrer Thronbesteigung, einer Hochzeit oder der Geburt eines Erben. Nein, Sharleyan hatte ganz gezielt einzelne Angeklagte begnadigt, und in jedem einzelnen Fall hatte sie persönlich die Gründe aufgezählt, die sie dazu bewogen hatten, hier Gnade vor Recht ergehen zu lassen.
Und obwohl ein Attentat auf sie verübt wurde, hatte sie in genau der gleichen Art und Weise weitergemacht.
Das war Corisande einfach nicht gewohnt! Tatsächlich war praktisch kein Reich auf ganz Safehold dergleichen gewohnt. In Corisande wusste
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