Die Uhr der Skythen (German Edition)
Brot mit der Fähre verdienen und Kunstmaler sein. So ist es gekommen, so wird es sein, wenn er achtzig Jahre zählt.
Fokko fährt mit einer Fingerspitze vorsichtig über die präparierte Leinwand. Die Farben sind ineinander verlaufen, ohne sich recht zu mischen, so entsteht eine irisierende Patina, die schon zu trocknen beginnt und die Struktur der Kohlestriche als dezente Maserung erkennen läßt.
Für Fox hat es niemals so etwas wie eine Sinnfrage gegeben. Mit dem, was er von Anfang an wollte und bis heute tut, steht er in guter Tradition. Es hat immer Menschen gegeben, die andere mit einem Einbaum oder einer Jolle über den Fluß transportiert haben, allezeit wurde Fisch gefangen und gehandelt, und die ersten Kunstwerke waren die Zeichnungen, die Hinrichs Ahnen mit einem Stöckchen in den Schlick kratzten: den Verlauf des Flusses, die Gestalt des Fisches und den Stand der Gestirne.
Irgendwann kam jemand auf die avantgardistische Idee, Erlebnisse mit angekohlten Ästen auf Höhlenwände zu kritzeln, Besitzansprüche in Baumrinden und Steine zu ritzen, lange bevor jemand den genialen Gedanken hatte, aus zwei Dutzend Zeichen das Universum der Sprache zu erschaffen, ohne das Reflexion, Geschichtsschreibung und Wissenschaft keine Chance gehabt hätten. Die Kunst hat diese Entwicklungen begleitet und bespiegelt wie ein schöne, stille Schwester, hat sich im Laufe der Zeit aus den Höhlen und von den Mauern der Kirchen und Schlösser auf die Leinwände emanzipiert, die sie mobil werden ließen – und käuflich. Es hat aber den Anschein, daß Fox sich nicht von einem einzigen Bild trennen mag. In allen Ecken stehen sie beieinander, unter Folie, in Packpapier oder im Schatten eines Schrankes verborgen, nur wenigen Werken ist das Auge des Betrachters vergönnt.
So das merkwürdige Gemälde, das beinahe beklommen zwischen dem letzten Regal und der Ecke beim Fenster über einer Kiste mit Noppenfolien hängt. Es gewährt einen weiten Blick in eine beigegrüne Ebene. Durch den Hintergrund zieht sich dunstig ein Gebirgszug, im Mittelgrund stehen drei zusammengewachsene Bäume einsam in der Steppe, in deren Schatten ein Nashorn und ein Mensch regungslos voreinanderstehen, sich erspüren, sich betrachten oder auf welche Art auch immer miteinander kommunizieren. Das Bild strahlt eine ungeheuerliche Ruhe aus, es erzählt eine fabelhafte Geschichte und keine. Denkt sich der Maler was dabei? Oder entspringt alles nur einem diffusen Gefühl, ordnet sich aus sich selbst wie ein stiller Traum?
Der Künstler kommt mit dem Tee.
»Was denkst du, wenn du so ein Bild malst?« fragt Fokko und deutet in die Savanne.
Fox schaut gar nicht hin und stellt das Tablett auf den Arbeitstisch.
»Beim Malen denke ich nicht. Sonst würde ich verrückt.«
»Und wie machst du jetzt weiter?«
»Die Idee habe ich hier«, sagt Fox, fühlt mit einem Finger über die frische Leinwand, holt ein Skizzenbuch hervor und schlägt eine Seite auf. Mit Bleistrift und Feder ist eine felsige Steilküste gezeichnet, an der sich ein verzweifeltes Meer austobt. Auf den riesigen Felsen flanieren Exemplare einer seltsam langgestreckten Spezies, ein liturgischer Lanzenträger, eine bildschöne Priesterin mit einem Krokodilskörper und ein Zwerg mit dem Kopf eines Philosophen aus Frankreich: Descartes vielleicht oder Pascal.
»Wer ist das?« fragt Fokko und deutet auf den Gnom.
»Montaigne.«
»Wieso?«
»Von ihm ist der Titel des Bildes.«
»Und zwar?«
» Förmlichkeiten bei der Begegnung von Königen . Heißt einer seiner Essays.«
»Und nachdem du das gelesen hast, wirst du ein Bild dazu malen.«
»Ich habe es nicht gelesen.«
»Nicht?«
»Nein. Es ist nur der Titel. Der hat mich quasi inspiriert.« Er stellt die Leinwand auf die Staffelei zurück. Die Grundierung ist getrocknet und wirkt wie der Ausschnitt aus einer verrosteten Schiffswand, ein brandrotes und algenbesetztes Stück Blech aus einem Wrack, in das ein Tiefseewesen in jahrzehntelanger Arbeit eine netzartige Struktur eingeschrieben hat.
»Und wenn das Bild fertig ist«, vermutet Fokko, »wirst du den Essay lesen.«
Fox hantiert mit Farben und Joghurtbechern und vollführt ein Achselzucken.
»Vielleicht«, sagt er, kleckst ein Farbgemisch auf eine Faserplatte, die er offensichtlich als Palette nutzt, und rührt und streicht mit einem Pinsel herum, ehe er einen Strich auf die Leinwand gibt. Als hätte ihm das einen elektrischen Schlag versetzt, nimmt er sofort einen Schritt Abstand und
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