Die Uhr der Skythen (German Edition)
betrachtet den grauen Fleck, als wäre er schon das fertige Werk.
»Im Anfang liegt alles«, erklärt er, scheint ihn mühelos gefunden zu haben und grundiert nun jeden einzelnen Felsen der Küstenlandschaft mit der graufleckigen Farbe. Fokko sieht eine Weile zu.
»Und was passiert nun mit der Fischbude?« fragt er dann.
»Ist sowieso Winterpause.«
»Bis wann?«
»Februar.«
»Und dann?«
»Ergibt sich was.«
Mit hastigen Strichen, zwischen denen er immer wieder wegspringt und das entstehende Werk mit mißtrauischen Blicken bedenkt, als streiche er eine schlafende Giftschlange an, trägt er die Farbe auf. Zunächst erscheint es wie ein beliebiges Geflecht von Flächen, aber mit dunkleren und andersfarbigen Tupfern bekommen die Felsen Kontur, in ihren Lücken und Ritzen scheint es Leben zu geben, und Fokko sieht schon das Meer so vergeblich wie beharrlich gegen die Küste antosen, ehe der Künstler auch nur eine Welle oder eine Spur Gischt gemalt hat.
»Deine Bilder kannste ausstellen«, sagt er, »die kannste verkaufen.«
Die erste Version der Steilküste scheint fertig zu sein. Fox putzt sich die Hände mit dem alten Küchenhandtuch und wirft einen schrägen Blick zur Staffelei.
»Warste in Pogum?« fragt er und gießt ihnen Tee ein.
Fokko nimmt eine Tasse und nickt. Der Tee wärmt ihm die Hände.
»Es hat sich nichts verändert. Hätte mich bestens zurechtgefunden, wenn ich inzwischen erblindet wäre. Jedes Ding hat seit hundert Jahren seinen Platz, nur die Pflanzen spielen verrückt und glauben, sie könnten das Haus verspeisen. Eine alte Nachbarin schaut hin und wieder nach dem Rechten, ihr Sohn, schätze ich, schneidet ihr einmal im Jahr mit der Heckenschere den Weg frei.«
»Dein Vater?«
»Lebt jetzt in Leer. Im Altenheim.«
»Wie alt?«
»Gute achtzig.«
Hinrich schlürft seinen Tee.
»Hast dich nicht sonderlich verstanden.«
Fokko tritt an das Fenster, stellt die Tasse auf die Fensterbank neben ein grelles Monster mit einem giftigen Blick und hässlichen Fangarmen, das dereinst eine Kunststoffflasche für Shampoo oder dergleichen gewesen sein mag.
»Doch«, sagt er. Bedächtig streicht der Wind durch die Straße, trocknet das Pflaster und spielt nebenher mit einem verlorenen Joghurtbecher. Vater war schwierig gewesen wie ein verletztes Leittier, wollte den Sohn endlich aus dem Haus haben und ihn unbedingt nicht gehen lassen, zog mit ihm in aller Herrgottsfrühe mit der Angel los als wäre er zehn Jahre alt, fragte bei der Werft und hätte für Fokko Arbeit gehabt, wollte die Zeit zurückdrehen und sie gleichzeitig beschleunigen. Sieh zu, daß du dir was suchst!
Es war ihm unerträglich, daß sein Sohn keinen Plan hatte, nichts weiter als den Rucksack auf dem Rücken und ein Fahrkarte in die nächste Großstadt in den Fingern. Er hatte kein Verständnis dafür, daß jemand aus der Familie weiter fortgehen mußte als nach Jemgum oder seinetwegen auch Emden. Fokko sieht diesen Blick, der so klar und deutlich in ihm aufbewahrt ist, als hätte Hinrich de Vries ihn aufgemalt: war wohl nichts als Liebe, mit der Verzweiflung, der Wut und der Wehmut des Vaters vermischt, der seinen Sohn verliert.
»Willste ihn besuchen?«
Es sind einige Jahre vergangen. Eine einzige Karte hat er geschickt mit dem Rathaus von Osnabrück drauf: Mir geht es gut. Habe Arbeit. Alles Gute. Hätte vielleicht schon mal eher auf Besuch hochkommen sollen, hat sich häufig vorgestellt, mit dem Vater ein Bier trinken zu gehen und über alles zu sprechen, aber dann verließ ihn regelmäßig der Mut, er hatte plötzlich keine Ahnung, über was eigentlich, ihm fiel ein, daß der Vater niemals ein Bier trinken ging, wo denn auch, höchstens am Ditzumer Hafen, hatte aber mit den Fischern nichts zu tun und sich und ihn mit seinen letzten Worten festgelegt wie einen Kahn auf Reede. Und jetzt hockt er in Leer in was für einem Heim, tausend Kilometer von Pogum entfernt, starrt aus einem Fenster in einen Innenhof, wo wie in einem guten Gefängnis ein schmaler Weg immer und immer um einen Tümpel führt, als wäre es der Dollart, denkt an sein Leben, als wäre es nur eine Geschichte, die der verrückte Nachbar erfunden hat und ahnt nicht, daß sich sein Wort in dieser Stunde erfüllt hat.
»Keine Ahnung«, sagt Fokko, führt die Tasse an den Mund und trinkt einen Schluck.
»Haste sonst vor?«
Augenblicklich kommt ihm das Mädchen in den Sinn. Ist er ihretwegen hier? Draußen ist es Nacht. Irgendwas zwischen acht und neun Uhr.
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