Die Uhr der Skythen (German Edition)
sterbensmüde und geben einen verständnislosen Blick frei, aber so erkennt der Sohn den Vater wieder, auch wenn dessen Gesicht augenscheinlich nicht mehr in der Lage ist, einen Gedanken oder ein Gefühl widerzuspiegeln.
»Ich bin’s. Fokko!«
Wahrscheinlich glaubt der Alte sich in einem verrückten Traum, denn in den glanzlosen Augen steht eine Menge Unverständnis. Immerhin scheint er aber zu begreifen, daß da jemand an seinem Bett sitzt, die Hand hält und mit ihm spricht.
»Ich bin dein Sohn«, sagt Fokko und faßt des Vaters Hand fester. »Wir sind auf Borkum gewesen, einen Sommer lang jeden Tag mit der ersten Fähre von Emden. Du hast Möbel in einem Haus eingebaut, ich war frei für einen langen Tag, war die ganze Zeit am Meer und im Wasser, habe den Pötten nachgesehen, die auf die Nordsee rausgedampft sind, habe nach Treibgut gesucht, das ich Dir stolz gegeben habe, wenn wir am Abend mit der letzten Fähre ans Festland zurückgefahren sind.«
In des Vaters Augen ist noch immer nichts anderes zu erkennen als Verständnislosigkeit, aber immerhin hält er den Blick noch in die Richtung, aus der ihn die rätselhaften Worte erreichen.
»Am Samstagmorgen sind wir mit den Angeln in aller Herrgottsfrühe auf den Steg hinter dem Düker, haben manchmal Flunder aus der trüben Brühe gefischt, eigentlich immer ein paar Rotaugen, die Mutter am Abend mit Bratkartoffeln in der Pfanne gebraten hat. Bei jedem Wetter sind wir raus, und bei Regen haben sie besonders gut angebissen.«
Bei dem Wort »Bratkartoffeln« scheint für eine Sekunde etwas in den Augen des Alten zu leuchten, sein Mund zittert, aber wahrscheinlich ist das nichts als ein willkürlicher Impuls.
»Kaum ein Tag in deinem Leben, an dem du nicht mit dem Schlitten ins Watt bist, nach den Reusen sehen, nach Aal und Krebsen. Und noch jedesmal hast du ein Stück Treibgut mitgebracht, irgend ein Tampen, eine Scherbe oder ein Fischknochen, aus dem du kleine Preziosen geschnitzt hast. Wie deinen Ring.«
Da er abermals den Ring berührt, ihn auf dem dürren Finger ein wenig dreht und glaubt, einen Mechanismus entdeckt zu haben, mit dessen Hilfe er die Erinnerung des Vaters justieren könnte wie den Empfang eines Senders im Radio, fliegt die Tür auf, grelles Licht stürzt von der Decke, und eine schrille Stimme nimmt mit überdrehter Fröhlichkeit den Raum in Besitz.
»Hallo, Opa Steen! Wir haben heut’ ja mal Besuch!«
Eine kleine, korpulente Frau in einem weißen Kittel und mit signalrot gefärbten, wirr von ihrem frohgemuten Kopf abstehenden Haaren dreht sich im Türrahmen eben wieder weg, hantiert auf dem Gang mit bedeutungsvollem Getöse an einem Essenswagen und kommt mit einem Tablett zurück, das sie Fokko in die Hand drückt, der längst aufgesprungen ist und den Stuhl zur Seite geschoben hat.
»Ich bin Schwester Ulla«, sagt sie mit ihrer Micky-Maus-Stimme, stellt das Kopfende des Bettes höher, klopft auf dem Kissen rechts und links des alten Schädels herum, der Vater hat längst wieder die eisenschweren Lider über den müden Augen geschlossen und läßt die tausendste Folter über sich ergehen wie ein Toter. Schwester Ulla zupft und klopft an diversen Schläuchen, wirft einen kritischen Blick auf zwei Infusionsflaschen, die an einem Ständer baumeln, stupst mit der Fußspitze einen Beutel auf dem Boden an, in dem eine rotgoldene Flüssigkeit gluckert und klappt zuletzt ein Brett quer über das Bett, auf das sie das Tablett setzt, das sie Fokko mit einem langmütigen Blick aus den Händen genommen hat.
»Sind Sie der Sohn?«
Die Ernsthaftigkeit ihrer Frage kommt Fokko geschauspielert vor.
»Ja«, sagt er widerwillig.
»Sieht man.«
Das kann nicht sein. Für einen Atemzug schaut er auf den sterbenskranken Mann, der es irgend geschafft zu haben scheint, in die Identität seines Vaters zu schlüpfen, dann weicht sein Blick unverzüglich auf das Tablett aus, um dort eine Bilanz zu machen: ein Teller mit Suppe, der dazugehörige Löffel, ein Stück Weißbrot mit Margarine, ein Napf mit Quark oder dergleichen, eine Schnabeltasse und ein Döschen mit vier bunten Pillen.
Der Geruch aus der Pfanne mit der Flunder und den Bratkartoffeln geistert ihm noch im Kopf herum, er sieht den Vater mit seinen kräftigen Händen den irdenen Krug umfassen, aus dem er seit seinem vierzigsten Geburtstag das abendliche Bier trank, er hört ihn mit kräftiger Stimme berichten, was er über den Tag erlebt hatte, bis die Mutter irgendwann den Schlusspunkt setzte:
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