Die Uhr der Skythen (German Edition)
Finger spielen mit einem Kugelschreiber, und ihr Blick ruht womöglich ein wenig amüsiert auf dem Bürger, über dessen Lippen kein weiteres Wort findet.
»Nee«, sagt er sich leise, schleicht aus dem Gebäude, steigt auf das Rad und fährt weiter Richtung Leer. »Eins nach dem anderen.«
Ein schwül-warmes Gemisch aus Küchendünsten und Ausscheidungen legt sich auf seinen Atem, auf die Haut, kriecht ihm in den Kopf wie ein süßliches Gift, das ihn augenblicklich von seiner Vergangenheit zu trennen scheint. Ein erinnerungsloser Ort. Die schwere Tür, die hinter ihm ins Schloß fällt, verhindert, daß jemand sich von denen, die in der lichten Eingangshalle sitzen wie die untoten Schauspieler eines seit langem abgelaufenen Stückes, auf den Weg macht zurück in sein abgelebtes Leben. Die Darsteller sind in festgefrorene Posen konserviert, schweigen für immer, sondern allenfalls gelegentlich die Scherbe eines uralten Dialoges ab – wie die kleine Frau im Blumenkleid, die vermeintlich aus dem Haus auf die Uferböschung und den grauen Nebenarm der Ems hinausschaut, in Wirklichkeit aber wohl nicht weiter als bis auf die Fensterscheibe, auf der sie vergeblich sich selbst zu erkennen sucht. »Wir nehmen die Magnolienvase«, sagt sie mit einer wunderschönen, mädchenhaften Stimme, scheint die Bewegung wahrzunehmen, mit der Fokkos Schatten für eine Sekunde ihr gläsernes Reich durchmißt, wirft einen Blick zur Seite wie jemand, der sich aus der Entfernung angesprochen fühlt, dann sucht sie wieder einen festen Punkt auf der Scheibe und wiederholt: »Wir nehmen die Magnolienvase. Ja.«
Fokko nickt unwillkürlich.
An einem Pfeiler findet er ein Verzeichnis aller Heimbewohner in einem Bilderrahmen versiegelt, als wäre es für die Ewigkeit auf einem Kriegerdenkmal eingraviert. Es ist nicht nach Namen sortiert, sondern nach Geburtsdaten, so daß jeweils der oder die Älteste oben verzeichnet ist. Der Sinn dieses Ordnungsprinzips bleibt ihm verschlossen, aber Fokko vermutet, daß es eine Heldenliste ist im Kampf gegen den Sensenmann, also schon so etwas wie ein Kriegerdenkmal. Gevatter Tod scheint in diesem Haus nicht sonderlich angesehen zu sein, aber wo denn hat er leichteres Spiel, hier holt er nur, was ihm zufällt und ist gewiß in tiefer Nacht häufig genug willkommen.
Er findet seinen Vater im oberen Drittel der Rangliste, Clemens van Steen, Zimmer 208, und er erfährt, daß er in diesem Jahr vierundsiebzig Jahre alt werden wird. Die Zeit eines Lebens. Wo ist sie geblieben? Zerronnen wie der Borkumer Sommersand zwischen den Fingern des Zehnjährigen, vorübergeflossen wie das niemals versiegende Wasser der Ems, dahingezogen wie die Wolkenlegionen, die der Nordwest seit Menschengedenken nach Ostfriesland rübertreibt.
Im Aufzug hört er aus dem Keller Geschirr klappern, dazwischen grelle, unverständliche Stimmen, und er stellt sich vor, das Haus ist ein Organismus für sich, lebt alle Jahre, alle Tage vierundzwanzig Stunden zu keinem anderen Zweck, als die sterblichen Hüllen derer auszuscheiden, die in ihm Minute für Minute auf ihr sicheres Ende warten.
In der zweiten Etage sitzt ein Mann an einem Tisch über eine Zeitung gebeugt, schaut auf, als die Aufzugtür sich öffnet, grüßt mit einem freundlichen Nicken, versenkt sich wieder in seine Lektüre, und Fokko kommt es vor, als seien seine morbiden Gedanken sichtbar wie Sprechblasen, die mit ihm aus dem Lift drängen.
Zimmer 208 ist gleich rechter Hand. Neben der Tür hängt ein Brettchen, in das jemand mit einem ungelenken Lötkolben den Namen seines Vaters eingebrannt hat. Alles scheint in dieser Anstalt für die Ewigkeit gemacht. Er klopft an die Tür. Nichts. Vielleicht ist sein alter Herr just an diesem Morgen verschieden, und sie haben sich nach all der Zeit um eine halbe Stunde verpaßt. Er klopft ein zweites Mal, drückt die Klinke und betritt den Raum.
Ein scharfer Geruch beherrscht für den ersten Moment alle Wahrnehmung. Fokko tränen die Augen, er legt eine Hand über Mund und Nase, dreht sich ab und wäre am liebsten auf und davon. Es ist kaum Licht. Ein schwerer Vorhang läßt zu seinen Seiten dämmrige Vielecke ins Zimmer, die schräg weggeknickt auf der einen Seite auf einen Stuhl fallen, auf dem ein bedruckter Pappkarton steht, aus dem schlaff ein Gummihandschuh schaut, auf der anderen Seite über einen Nachttisch mit einer Fotografie in einem silbernen Rahmen, auf ein beschlagenes Wasserglas, auf ein Stück Bettdecke, auf dem eine
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