Die Uhr der Skythen (German Edition)
menschliche Hand ruht.
Ein fürchterlicher Schreck durchfährt ihn. Es ist, als fände er sich plötzlich in einer Gruft, in einem grauenhaften Traum gefangen. Er ist sicher, er hat den falschen Raum erwischt, hätte nur eine Tür weiter gehen müssen, um seinen Vater am Fenster sitzend vorzufinden mit der Kapitänsmütze auf dem Kopf, auf dem Tisch ein Haufen Treibgut, aus dem er ein passendes Stück für den nächsten bizarren Fetisch sucht, und hin und wieder geht der Blick des alten Wattgängers auf den stillen Arm der Ems hinaus, auf deren grauer Folie er in den Bildern seines vergangenen Lebens liest.
Es ist die Hand eines Toten, ein von einer faltigen, fleckigen Haut überzogenes Gebein, das sich im Leben nicht mehr regen wird. Die Nägel sind wie Krallen nikotinfarben krumm über die Fingerkuppen gewachsen, und auf einem Finger steckt skelettweiß ein Ring aus Fischknochen, der wie eine keltische Arabeske geschnitten ist. Es ist also die Hand seines Vaters.
Sein Körper ist unter der Bettdecke verborgen, sein Kopf liegt tief im Schatten. Fokko glaubt, ganz schwach den Atem des alten Mannes zu hören, ein mechanisches Schnarren wie das Betriebsgeräusch irgendeines sinnlosen Zählwerks.
Fraglos wäre es ihm möglich, still zu verschwinden. Ein flüchtiger Blick in das Dunkel des Schattens, ein belangloses Wort des Abschieds, und in wenigen Minuten wäre er mit dem Rad auf dem Rückweg. Aber wohin zurück? Der Weg, den er neuerdings geht, so weiß er in diesem Augenblick, führt nicht zufällig an diesem Bett vorbei, das nichts anderes ist als ein Totenlager, und wenn er die sterbende Hand seines Vaters nicht ergreift, wird er den Weg nicht gehen könne, von dem er keine Ahnung hat, wohin er führt.
Er schiebt den Vorhang ein Stück weiter auf. Das graue Licht quillt träge in den Raum, es gibt dem sparsamen Mobiliar schwache Konturen und läßt allmählich die Gestalt auf dem Bett deutlich werden, als wäre es eine Fotografie in einem Entwicklerbad. Fokko stellt den Karton mit den Gummihandschuhen auf den Tisch, schiebt den Stuhl ans Bett und nimmt Platz. Mit einer Fingerspitze berührt er den keltischen Ring.
Als Kind hat er bisweilen auf dem Schoß seines Vaters gesessen, bei Tisch, wenn sie sich zum Nachtisch einen Vanillepudding teilten, auf der Böschung eines Priels beim Angeln oder abends auf der Bank vor dem Haus, wenn die letzten Sonnenstrahlen des Tages vom Schwan auf der Kirchturmspitze golden herüberfunkelten, die väterliche Hand lag schwer auf den Beinen des Kindes, und Fokkos Finger spielten unablässig mit dem sagenhaften Ring, in dessen verschlungenen Ornamenten Geschichten eingewoben waren von Fürsten und Zauberern, von Piraten und verwunschenen Jungfrauen.
Seine Augen haben sich an das Halbdunkel gewöhnt. Der Kopf auf dem Kissen scheint lediglich in seiner Vorstellung eine Verbindung mit der Hand zu besitzen, die er zaghaft berührt. Sie fühlt sich an wie von einem brüchigen Stoff überzogen, der leblose Teil einer Kleiderpuppe, aber sie ist warm. Er hebt den Blick. Da liegt zweifellos niemand anderes als sein Vater, das weiß er, weil der Kontext davon spricht, der einzigartige Ring. Aber er erkennt ihn nicht, sieht nichts als den verfaulenden Schädel irgendeines Greises, das Haar wie eine lächerliche Perücke grau und spröde auf der altersfleckigen Kopfhaut verrutscht, die Ohren offenbar zu skuriller Größe ausgewachsen, die Wangen eingefallen und wie das halbe Gesicht von silbernen Stoppeln überwuchert, die Nase großporig aufgebläht, der Mund aber, der sich mit den Wangen in das Innere des Kopfes zurückziehen möchte, von einem sperrigen, kalkweißen Gebiß aufgesperrt und zu fratzenhaftem Grinsen verzerrt. Die alten Augen indes sind geschlossen.
Er ist mein Vater, denkt Fokko und versucht, das Gefühl des Ekels von sich zu drängen, das der sterbende Mann ihm erzeugt.
»Vater«, sagt er leise und drückt die knöcherne Hand. Der Alte gibt einen röchelnden Laut von sich, schnauft, dreht den gräßlichen Kopf ein wenig hin und her, dann liegt er wieder da wie tot. Jetzt könnte er tatsächlich gehen. Ja, würde er Fox erklären, wenn er fragt, ich war da, aber es ist sinnlos, er erkennt niemandem, ist nicht ansprechbar, der Schnitter hat es sich in dem kleinen Zimmer wohl schon recht bequem gemacht und wird ihn alsbald mit sich nehmen.
»Vater!«
In der Totenhand regt sich etwas, das schnarrende Atemgeräusch hält für eine Sekunde inne, die Augen öffnen sich
Weitere Kostenlose Bücher