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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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ihre Tatzen und ein Teil des Gesichts sind weiß.
     
    Nicht eine Sekunde der Vergangenheit könnte er je zurückholen. Natürlich nicht. Aber er sitzt wie sein Vater mit dem Tee am Küchentisch, gibt zwei Kandis hinein und rührt in der Tasse, als wäre er eben von der Arbeit gekommen oder aus dem Watt. Er holt die Uhr aus dem Rucksack, öffnet sie und legt sie auf den Tisch. Ein Dampffähnchen ist über der Teetasse aufgemalt, die Kochmaschine schweigt und neben der Tür zum Garten hockt eine schwarze Katze aus Porzellan. Eine tolle Kunst, die Welt anzuhalten. Sie taugt nur zu Schandtaten. Ungesehen man kann stehlen, fälschen oder sich aus dem Staub machen. Er könnte jetzt mit dem Rad nach Leer fahren, ohne daß es schlechteres Wetter oder Abend würde, könnte Schwester Ulla mitten auf dem Gang aller Kleider berauben und gemütlich zurückfahren, sich wieder an den Küchentisch setzen und einen Schluck Tee nehmen, der wohl noch immer heiß wäre. Er könnte durch Ditzum gespenstern, auf den Schildern der Gaststätten die Preise für Fischgerichte senken, die Kirchturmuhr um Stunden vorstellen oder sonst eine Albernheit anstellen. Er könnte endgültig verschwinden, sich in Hamburg oder Rotterdam unbeobachtet auf einen großen Kahn schleichen, der ihn nach Australien oder Südamerika brächte, wo er ein komplett anderes Leben beginnen würde.
    Wozu aber sollte das gut sein?
    Er nimmt einen Schluck Tee. Der Dampf gerät in eine schlingernde Bewegung, aber eine Armlänge über ihm steht er wieder, als wäre er lediglich auf die Küchendecke gemalt. Die Zauberei mit der Zeit hat gewiß etwas verändert in seinem Leben, aber vermutlich war es eher Eva, die ihm eine bemerkenswerte Kurskorrektur verpaßt hat. Er schaut das Innere der Uhr genau an. Die metallenen Zeichen besitzen zweifellos einen Sinn, für ihn jedoch sind sie nicht zu entziffern. Die beiden Scheiben haben sich seit dem ersten Mal bestimmt gegeneinander verschoben, aber wahrscheinlich bewegen sie sich tausendmal langsamer als der Minutenzeiger der Standuhr.
    Eigentlich weiß er nichts von der Höllenkunst und ihren Möglichkeiten, dazu bräuchte er Schwammheimers Inspirationen und Digitalfotos und hätte vielleicht doch den Karton aus dem Container fischen sollen, in dem sich offenbar Aufzeichnungen befanden, in denen jemand seine Erfahrungen mit der Zauberuhr dokumentiert hatte. Das ist ewig her. Sein Blick sucht den Kalender, der immer an der Schmalseite des Küchenschranks hing. Dort hängt er auch, aber der Monat, den er zeigt, ist mehr als zwei Jahre vergangen. Das wird in etwa die Zeit sein, die sein Vater in diesem Heim im Bett liegt, sein Bewußtsein Tag für Tag weiterrostet und er nichts anderes mehr vor den lebensschweren Augen hat als den letzten Besuch des Gevatters. Er schließt die Uhr wieder. Wie den verzweifelten Atem des Alten hört er die Kochmaschine stöhnen, wie seinen müden Herzschlag die Standuhr im Flur ticken. Er hat sie in Gang gesetzt, aber die Zeit, die er ihr gegeben hat, ist willkürlich geschätzt, irgendwas zwischen drei und vier Uhr. Draußen indes kriecht die Dämmerung schon über die Ems. Er nimmt die Katze, wirft sie sanft über die Schwelle und schließt die Tür zum Garten. Dabei fällt ihm ein, wo er die Uhr vorläufig verstecken kann, ohne sie im Urwald hinter dem Haus endgültig zu beerdigen.
    Sie hatten immer eine große Zuckerdose, weil viele Klunker Kandis unter den Tee kamen oder stiekum in den Mund geschoben wurden, wo sie zwischen den Zähnen krachend in geologischen Schichten auseinanderbrachen und sich in himmlische Süßigkeit auflösten. Es ist eine blecherne Teedose mit Klappdeckel, die es mal zu Weihnachten gegeben hat. Der bunte Aufdruck, der alte Bilder aus einem indischen Hafen zeigt, ist längst verwittert und abgegriffen, aber sie steht da, wo sie immer stand: hinter der rechten kleinen Tür im oberen Teil des Küchenschranks.
    Erst einmal macht er Licht und läßt an Tür und Fenster die hölzernen Jalousien herunter, als müßte er befürchten, es könnte jemand um das Haus schleichen und spionieren. Dann holt er eine alte Zeitung aus dem Karton unter dem Herd, breitet sie auf dem Tisch aus und kippt den Zucker aus der Dose. Zuletzt rutscht ein Metallkreuz auf den Kandisberg, offensichtlich ein militärischer Orden mit einer fleckigen Messingkrone und verrosteter Anstecknadel. Wahrscheinlich eine Auszeichnung, die einem britischen Piloten verliehen worden war, der sich eines fernen Tages in

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