Die Uhr der Skythen (German Edition)
emsaufwärts, bis es hinter Bültjers Halle verschwindet, da spürt er plötzlich einen zügellosen Hunger, nimmt die Treppe am Sieltor zur Kirchstraße, wo auf einem Hof in einem alten Schuppen Hinrichs Tante den Fischhandel hat.
Sie kennt ihn nicht wieder. Er hat keine Lust, sich vorzustellen, kauft ein Heringsbrötchen gegen den ärgsten Hunger und einen Topf Matjes in Sahnesoße, dazu wird er am Abend Pellkartoffeln kochen. Das Brötchen stopft er unterwegs in sich hinein, und als er in der Pfefferstraße vor der Tür steht und nach dem Schlüssel sucht, steht ihm unversehens sein künftiges Leben vor Augen, als hätte er eben vor Foxens Haus einen zerknitterten Bogen Papier gefunden, auf dem in einer einfältigen Zeichnung dargestellt ist, wie seine Zukunft aussehen wird. Im Zentrum steht ein von Bäumen umstandenes Haus, dahinter erstreckt sich ein geometrischer Garten bis an den Deich, der das Land in einer Schlangenlinie von unten nach oben durchzieht, und auf seiner Krone fährt ganz im Norden, dort, wo ein Schiff den Fluß überquert, ein Mädchen mit einem flatterndem Kleid auf einem Fahrrad. Und es ist Sommer. Ein wenig erinnert ihn diese Vorstellung an die naiven Allegorien aus den Erbauungsschriften der Zeugen Jehovas, wo man zwischen dem bequemen Weg des Materiellen und dem steinigen des Glaubens wählen muß und immer den Eindruck hat, das Paradies, mit dem man am Ende belohnt werden wird, findet in der amerikanischen Gesellschaft der Fünfziger Jahre statt.
Als er Hinrichs Haus betritt, hat er die Idee, sogleich an eine der Staffeleien des Freundes zu treten und das gleichnishafte Bild zumindest mit einem Bleistift auf Papier festzuhalten. Er selbst scheint im Hafen am Bildrand auf die Ankunft des Schiffes zu warten, jedenfalls steht dort jemand mit einer Kapitänsmütze neben einem Marktstand, verweist mit einem Arm auf das radelnde Mädchen, mit dem anderen auf ein Auto, eine schwarze Limousine, die sich von Süden her auf dem Deich nähert, als wäre das ein ganz normaler Weg. Es ist alles erstaunlich klar in sein Gedächtnis geschrieben, er könnte es detailliert aufzeichnen oder jemandem beschreiben, den es interessieren könnte.
Da hört er ein Geräusch aus der Küche.
Fox kann es nicht sein. Die letzte Fähre ist noch nicht gegangen, die Dämmerung ist eben über den Fluß gekommen und weder Öljacke noch Kapitänsmütze hängen am Haken. Er klopft an die Tür und tritt ein. Eine blonde Frau im Blümchenkleid sitzt am Küchentisch und arbeitet sich mit einem Rotstift durch einen Stapel Schreibhefte. Es ist die Lehrerin, die gestern morgen auf die Fähre nach Petkum gefahren kam und sich die ganze Passage lang mit dem Kapitän unterhalten hat. Beinahe beiläufig hebt sie den Kopf.
»Du bist Fokko!« stellt sie lächelnd fest.
Sein Blick weicht dem ihren aus, durchfliegt in einem Bogen die phantastische Malerwelt, hält sich in keinem Bild, bei keiner kauzigen Skulptur auf, sucht wohl nur was Vertrautes, findet es endlich in der hellblauen Küchenuhr, auf der er für ein paar Sekunden ruht. Es ist, als könnte er ihr nicht antworten, ehe er nicht die genau Zeit wüßte. Sieben Minuten vor sechs.
»Ja«, sagt er dann.
»Ich bin Helene.« Sie legt den Stift beiseite, lehnt sich auf dem Sofa zurück, streicht sich mit parallelen Handbewegungen das Haar hinter die Ohren und beginnt ohne Umschweife aus ihrem Leben zu erzählen, daß sie auf Juist geboren und aufgewachsen ist, die Insel am liebsten ihr Lebtag nicht verlassen hätte, zum Studium aber natürlich aufs Festland mußte, nach Oldenburg, und ihre erste und wahrscheinlich letzte Stelle sei nun die an der Schule in Ditzum. Nur auf ihre Heimatinsel würde sie wechseln mögen, das war eigentlich immer ihr Traum, aber das wolle sie jetzt nicht, wegen Hinrich.
Fokko weiß derweil nicht so recht, wo er hingucken soll, kramt mit seinem Rucksack, holt das Eimerchen mit Matjes hervor, stellt es neben den Stapel Schulhefte auf den Tisch und denkt, Fox redet sowieso nicht sonderlich viel, nun wird es wohl eher noch weniger sein.
»Wo habt ihr euch kennengelernt?« fragt er.
»Auf der Fähre«, sagt sie, holt mit einer routinierten Bewegung, als wären ihr die Ohren bereits zu kühl geworden, das Haar wieder nach vorn, schüttelt den Kopf, hebt den Saum des Kleides ein wenig an, schlägt die Beine übereinander und legt die violetten Blümchen wieder über die Knie. Fokko setzt sich auf einen Stuhl, holt den Tabak aus dem Rucksack und dreht
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