Die Uhr der Skythen (German Edition)
ein paar aufgeregte Stimmen zu hören. Fokko stellt sein Rad an den Waschbetonkübel. Kein Mensch ist auf der Straße. Ein Lieferwagen zischt vorbei, im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite geht in einem der neugotischen Fenster ein Licht an und irgendwo Richtung Ems bellt ein Hund.
Zimmer siebzehn. Das Rathaus besitzt den architektonischen Charme einer Turnhalle. Im Eingangsbereich wischt eine Frau den Boden, über der verwaisten Portiersloge hängt eine der Uhren, deren Ziffernkarten elektrisch gehalten und fallengelassen werden und die vor langer Zeit fürchterlich modern waren. Fokko wartet das schnarrende Geräusch ab, mit dem die nächste Minute fällig wird. Zehn nach elf. Es kommt auf den ersten Eindruck an. Er wird vernehmlich klopfen, aber ihre Aufforderung einzutreten nicht recht abwarten, sie wird den Blick noch in den Akten haben, wenn er schon mit festen Schritten auf sie zu eilt und einen wunderschönen Morgen wünscht. Vielleicht erkennt sie ihn sofort wieder. Vielleicht muß er ihr nur einen zarten Hinweis geben auf ein Straucheln im Hauptbahnhof von Osnabrück, und wenn alles nicht so recht in Gang kommen mag, so hat er immerhin einen guten Grund, vor ihrem Schreibtisch zu sitzen: die Ummeldung.
Es ist das letzte Zimmer auf der linken Seite des langen Ganges: Fachbereich Bürger und Ordnung . Sie ist für die Ordnung zuständig. Er überlegt nicht lange, klopft an, wartet für einen Atemzug und öffnet die Tür. Vor dem Schreibtisch sitzt eine korpulente Frau auf einem Stuhl, sie trägt einen bodenlangen Mantel, ein Kopftuch und ein Kleinkind auf dem Arm, das ihn über die Schulter der Mutter mit großen, schwarzen Augen anglotzt.
»Entschuldigung«, stammelt er. Von der Sachbearbeiterin ist gottlob nichts zu sehen. Er stolpert zwei, drei Schritte zurück, schließt die Tür sehr behutsam und eilt den Gang bis in die Eingangshalle zurück. Die Putzfrau schneidet ihm mit ausfallenden Bewegungen des Aufnehmers den Weg ins Freie ab. Er weicht an ein Fenster zur Seite aus. Von dort kann er ein Stück des Hamelmannschen Gartens erkennen, zwischen dem schwarzgrünen, wirr herabhängendem Geäst einer Weide die kalkweiße Rückfront der Villa, die geschwungene Freitreppe, auf der seit wohl hundert Jahren niemand mehr gelustwandelt sein mag, die hohen Fenster mit den Rundbögen halbblind vollgestopft mit wuchernden Bücherstapeln. Die kahlen Bäume und der verhangene Himmel werfen einen trägen Schatten auf das Haus und den Garten, dennoch ist kein Funken Licht in den Fenster zu sehen. Eines gewissen Tages wird auch der unsterbliche Hamelmann sterben, den Kopf, der eben noch seinen letzten Gedanken gedacht hat, zwischen den aufgeschlagenen Seiten eines Folianten zur ewigen Ruhe gebettet oder der alte Körper von einem Stapel zerschlagen, der sich mit der Schwerkraft angelegt hat. Was wird dann aus den ungezählten Büchern? Zieht ein weiterer Hamelmann in die Villa, ein bibliophiler Bruder im Geiste, führt den aussichtslosen Krieg um die allumfassende Gelehrsamkeit fort, um selbst einer fernen Sekunde vom immensen Gewicht des Wissens erdrückt zu werden? Oder fährt dann ein Entsorgungsunternehmen mit einem speziellen Exhauster für Literatur vor das schöne Haus und dekontaminiert es, indem es Band für Band in einen Container schleudert und so die letzten Gedanken, den letzten Buchstaben vertilgt?
Auch der gebildetste Mensch muß sich in einem solch großen Haus voller Bücher winzig vor Unwissenheit vorkommen. Wenn Fokko inmitten der Galaxien von gedachten und aufgeschriebenen Einfällen und Schlußfolgerungen leben müßte, würde er es allenfalls als Herausforderung ansehen, die Bücher zu sortieren, Hamelmanns Bibliothekar zu sein, der Zauberlehrling, der am Ende jedes Buch kennt, ohne von einem einzigen Satz etwas zu wissen.
Eben, da er glaubt, in einem der Fenster einen Schatten vorbeihuschen zu sehen, hört er das Kind plärren. Auf dem Arm seiner Mutter zieht es vorbei und aus dem Gebäude. Er hat sich vorgenommen, eine unbestimmte Zeit verstreichen zu lassen, ehe er das zweite Mal anklopft, schlendert auch scheinbar absichtslos auf den langen Gang zurück, aber je näher er Zimmer siebzehn kommt, um so zielstrebiger werden seine Schritte.
Er klopft an. Von drinnen hört er eine freundliche Stimme und tritt ein.
Sie ist es tatsächlich. Macht sich noch eine Notiz, schaut aber schon mit einem Auge zu ihm her und verschenkt ein Lächeln, das ihm auf die Brust schlägt.
»Moin«,
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