Die Uhr der Skythen (German Edition)
Handschuhe aus den Manteltaschen und zieht sie an. Vielleicht arbeitet sie heute länger, die Dienstzeiten müssen nicht unbedingt mit ihren Arbeitszeiten identisch sein. Vielleicht wäre es sowieso besser, sich alsbald und stiekum aus dem Staub zu machen, denn binnen kurzem könnte sich, so kommt ihm in den Sinn, seine wunderliche Idee in der kühlen Luft aufgelöst und nichts hinterlassen haben als eine brennende Verlegenheit.
Als er fahren will, kommt sie. Wirkt nicht wie jemand, der in der Behörde arbeitet, eher wie die letzte Kundschaft des Tages, eine junge Frau in einem bunten Wollmantel, die ihm freundlich zunickt wie es die Höflichkeit verlangt in einem kleinen Ort. Wenn sie ihn jetzt passiert, ist die Geschichte an ein unwiderrufliches Ende gekommen.
»Merreth«, sagt er leise.
Sie hört ihn nicht.
»Merreth?«
Sie ist schon fast an ihm vorüber, verlangsamt ihre Schritte, schaut über die Schulter zu ihm her, und was immer es auch sein mag, das sie in seinen Augen sieht, jedenfalls bleibt sie stehen und schaut ihn aufmerksam an.
»Ja bitte?«
Dieser Moment entscheidet alles. Aber es fehlt ihm nicht nur jegliches sinnfällige Wort, es fällt ihm überhaupt keines ein. Er steht nur da, hält sich am Fahrrad fest, ohne das er auf das Pflaster des Vorplatzes stürzen würde, es fliegen ihm ein Dutzend Gedanken wirr durch den Kopf, er könnte sie etwas Berufliches fragen, wo auch immer zu einem Kaffee einladen, sie an den Abend im Crocodile erinnern, ihr gestehen, daß er sich plötzlich in sie verliebt habe, von der Zauberuhr anfangen oder von seiner feuchtklammen Kindheit im Schatten des Pogumer Deiches, aber kein einziger Laut kommt ihm über die Lippen.
Es erscheint ihm wie eine Ewigkeit, die er an das Rad geschweißt dasteht, ein tumber Tor, der von einer Sekunde auf die andere in einen respektablen Wahnsinn verfallen ist, aus dem ihn nichts anderes retten wird als das Wort, das Merreth Winterboer eben spricht.
»Wollen wir Kaffee trinken?«
»Ja«, bringt er hervor.
»Es gibt eine Bäckerei in der Oberfletmerstraße.«
Sie gibt ihm einen Klaps auf den Arm, ohne den er kaum in Gang käme, geht an der Villa des Universalgelehrten vorbei und die Hofstraße hoch, er schiebt sein Rad an ihrer Seite, fragt, wie sie denn gewöhnlich nach Dienstschluß heimkomme und wo das überhaupt sei. Bei schlechtem Wetter mit dem Bus, antwortet sie, morgens mit dem Rad, wenn die Zeit knapp sei, in der Regel aber zu Fuß die drei Kilometer über den Deich bis nach Critzum, besonders nach dem Dienst brauche sie Bewegung, den Wind und wenigstens einmal am Tag wolle sie den Fluß begrüßen.
Der erste Schluck Kaffee löst in seinem Inneren einen Mechanismus aus, der ihn von der Sprachhemmung befreit, und als Merreth ihn fragt, was ihn denn bewegt habe, die Stadt zu verlassen und eventuell für immer in seine einsame Heimat zurückzukehren, erklärt er, es wäre wahrscheinlich besser gewesen, die Ems nie zu überqueren, höchstens mit einer Fähre wie der Freund Hinrich, der ja drüben niemals wirklich ankäme oder gar weitergehe wie er selbst es getan habe aus eigentlich unerfindlichen Gründen. Die Stadt, sagt Fokko, sei, das habe er begreifen müssen, ein Moloch, der einen Menschen wie ihn ganz einfach verdaue oder, wie in seinem Fall, eben noch rechtzeitig ausspucke. Die Unruhe, allein die ständige Anwesenheit von ungezählten Möglichkeiten habe sein Gemüt zerfressen, und er sei heilfroh, zurück zu sein.
»Vielleicht habe ich diese Erfahrung machen müssen«, sagt er, »aber ich war viel zu lange dort. Ein Jahr hätte gereicht, höchstens drei Lehrjahre, um zu begreifen, aber nicht zehn oder zwölf oder wieviele ich da unten verschenkt habe!«
»Was für Möglichkeiten?« fragt sie.
Er schaut sich um. Steht mit einer fremden Frau in einer Bäckerei, rührt in seinem Kaffee, erzählt ihr von verstrichenen Befindlichkeiten, als wäre sie Anna von der Tankstelle, mit der er vom ersten bis zum letzten Tag ohne einen falschen Gedanken oder ein verqueres Gefühl hatte reden können als wären sie Geschwister. Die Leute kommen und kaufen ihr Brot, ihren Kuchen, die Bäckerin reicht ihre Schätze über den Tresen, als würde sie alles verschenken, und niemand findet offenbar etwas dabei, daß sich da am Stehtisch ein nicht mehr ganz junger Mann mit der Frau Winterboer von der Gemeinde unterhält, als wären sie ein Paar. Sie selbst anscheinend am wenigsten.
»In der Stadt«, sagt er, »ist alles mit einem
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