Die Uhr der Skythen (German Edition)
so kommt es ihm vor, so etwas wie eine sehr ernste Frage, aber er versteht sie nicht und sie machen sich auf den Weg wie zwei Grundschulkinder, die seit Jahren denselben Schulweg haben, gehen um die nächste Ecke, zwischen den letzten Häusern hindurch auf den Deich, der von hier aus in einem großen Bogen bis Critzum den Knick abschwächt, den der Fluß am Midlumer Sand von Nord nach West macht.
Es wird früh Abend. Auf der Ems sind zwei Kähne bergab unterwegs, das Moor jenseits des Flusses, so scheint es, liegt bereits unter dem ersten Dunkel der Nacht, und ein paar versprengte Lachmöwen kommen von drüben, hüpfen für einen Augenblick grimmig und unschlüssig in ihrer Schwesterntracht umher, ehe sie keckernd über einen Zaun flattern und in den Wiesen verschwinden.
Bis zum Eppingawehrster Weg sprechen sie kein Wort, aber das lange Schweigen scheint ihnen erstaunlicherweise keine Spur unangenehm, im Gegenteil, es ist, als wünschten sie, immer und immer schweigend über den Deich zu ziehen.
»In der Stadt«, sagt er dann, »haben wir uns ein zweites Mal gesehen.«
»Wo?«
Fokko erzählt die Geschichte gleichsam in ihrer Version, wie sie zwischen all dem Gepäck ins Straucheln geraten und zufällig in seine Arme gestürzt ist, sich freundlich bedankt hat und im Gewirr der Bahnhofshalle verschwunden und ausgerechnet im Jemgumer Rathaus wieder aufgetaucht ist.
Sie erinnert sich, nickt versonnen und lächelt.
Es ist ihm nicht angenehm zu lügen, es kommt ihm vor, als würde er damit verunreinigen, was sich eben sehr behutsam zu entwickeln scheint, aber die Wahrheit hat mit der Uhr zu tun, die er im Pogumer Zuckertopf vergessen will, und er spürt genau, dahinter, ganz in der Nähe, hält sich das Glück versteckt, um ihn plötzlich anzuspringen und umzuwerfen.
Wiederum gehen sie ohne ein Wort nebeneinander her und empfinden beide, daß sie es vollkommen schwerelos können, es geht kaum ein Wind, die Wasservögel erledigen eilig die letzten Geschäfte des Tages, und als sie im Fluß die Tonnen vor dem Hatzumer Sand erkennen, sehen sie in der aufziehenden Dämmerung die spärlichen Lichter von Critzum glimmen.
Merreth wohnt am Rande des Rundlings bei ihren Eltern unter dem Dach, das Haus hat einen kleinen Vorgarten, der gefliest ist, und genau in der Mitte steht ein Sandsteintrog mit einem immergrünen Strauch. An einer Seitenpforte bleibt sie stehen, ihre Hand liegt wieder auf dem Lenker, und als er zu sprechen beginnt, berührt ihr kleiner Finger seinen, als wäre es eine altvertraute Bagatelle. Die aber läßt in ihm einen Brand ausbrechen, den zu löschen er nur durch viele Worte versuchen kann, er erklärt, daß er in nächster Zeit Arbeit suchen wird, eine einfache Sache, da auch im Pogumer Haus genug zu tun sei, im Augenblick ja nicht so sehr, obschon aufzuräumen doch, wenn dann indes der Frühling komme im Garten und im Schuppen reichlich, und nebenher mal ins Watt oder an einem Siel sitzen und auf einen freundlichen Fisch warten, das sei auch nicht wenig.
Er schaut zu ihr auf. Sie betrachtet ihn wohl die ganze Zeit schon mit einem rätselhaften Lächelblick, den er nicht zu erwidern weiß, so senkt er den seinen auf die beiden kleinen Finger, die augenscheinlich beabsichtigen, sich auf dem kalten Metall des Fahrradlenkers zu umschlingen, aber er begreift nicht recht, was er sieht, er empfindet nicht das, was er glaubt, empfinden zu müssen, da rettet ihn der Gedanke an eine Fischhändlerin aus dem Goldenen Zeitalter aus der Verlegenheit und in neue Worte, er sagt leise, er habe sie ein drittes Mal gesehen, in einem holländischen Gemälde aus dem sechzehnten Jahrhundert, einer Straßenszene, einem Fischmarkt auf dem sie, vielmehr ihre historische Schwester, im Vordergrund mit Fischen und einem aufdringlichen Verehrer oder Verwandten zu tun habe, und diese hohe Ähnlichkeit deute er nun anders als Zufälligkeit, vielleicht gebe es doch so etwas wie die Wiedergeburt oder wenigstens eine Wiederholung des humanen Repertoires, inhärente Verwandtschaften, genetische Linien, die mit genealogischen nicht unbedingt übereinstimmen müßten, zudem sei jedes Betrachten ein sehr persönliches, es gebe also weder eine objektive Schönheit noch so etwas wie eine ästethische Wahrheit, zu der er ihr gern ein sinnfälliges Beispiel gegeben hätte, aber die Gedanken haben sich nun jämmerlich verwickelt, und er schweigt und schaut sie an.
Wahrscheinlich besitzt sie nicht mehr und nicht weniger Ähnlichkeit mit
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