Die Uhr der Skythen (German Edition)
begleiten?«
»Es liegt ja am Weg«, sagt sie lachend, fährt ihm durch die Haare, als wäre er ein Junge von sechs Jahren, dann holt sie ihren Mantel, und sie brechen auf.
Unterwegs fliegen ihnen die ersten Schneeflocken entgegen, grieseln durch das milchige Mondlicht und besetzen zunächst die Kuppen der Zaunpfähle, die Fugen im Pflaster auf dem Deich, bilden einen langen Schleier über der Ems, durch den der frostige Ostwind geht.
Schweigend fahren sie nebeneinander her und Fokko denkt, wie gut es der Schöpfer doch eingerichtet hat, daß man nicht wahrzunehmen in der Lage ist, was in einem anderen Kopf vor sich geht, sei man sich auch noch so nahe. Merreth, die in etwa nach Hause fährt, als täte sie es allein, nur daß sie gelegentlich dem Mann, der sie auf dem Rad begleitet, einen freundlichen Blick schenkt, sie müßte erschrecken über die Verwirrung in Fokkos Kopf, in dem wie in einem fiebrigen Traum die Begehrlichkeiten und der Widerwille um die selben Bilder ringen, der Freund Fährmann lacht von seinem Schiff herüber wie der Gevatter vor der letzten Passage, deutet über den Hafenplatz auf die Fischbude, als wäre der schräge, schmuddelige Kasten der verborgene Eingang zum Fegefeuer, in dem ihn eine sportliche Teufelin zur peinlichen Befragung in Empfang nehmen wird.
Als sie vor dem Haus ihrer Eltern stehen und für einen Moment gegenseitig ihren Atem betrachten, zwei verspielte Fähnchen, die sich vereinen und verschlingen, und schon hat sie der Wind in die Nacht davongetragen, erkennt er klar und deutlich diesen Punkt auf dem gemeinsamen Weg, an dem sich unbedingt entscheidet, ob man sich trennt, wie es die Vernunft zu empfehlen scheint oder ob man sich etwas weiteres vorstellen kann oder wünscht, und während sie unschlüssig ist oder es nur zu sein scheint, jedenfalls schaut sie ihn an, als hätte sie ihm eine Frage gestellt, die sie mit Sicherheit nicht gestellt hat, denkt er, er könnte vielleicht seine Hand so freimütig auf ihren Lenker legen wie sie die ihre auf seinen eine Woche zuvor. Doch ehe er seinen eiskalten, bleischweren Arm auch nur eine Fingerbreite weit heben kann, fragt sie ihn etwas, was sie bereits weiß.
»Samstag fährst du nach Borkum?«
»Ja.«
»Gibt es einen besonderen Grund?«
»War da lange nicht. Da ist das Grab meiner Mutter.«
»Wieso nicht in Pogum?«
»Sie kam daher und wollte wieder dahin zurück.«
Merreth nickt gedankenversunken, ihr Blick scheint meilenweit aus Critzum hinaus über den Deich, den Fluß, die Stadt Emden und über das Dukegat bis auf die Insel Borkum zu fliegen, ihre Hand ergreift indessen mit einer ungeheuerlichen Unbefangenheit die seine, und so kalt diese ist, so heiß ist jene und wärmt ihm nicht nur die kalten Finger.
»Nimmst du mich mit?« fragt sie.
»Nach Borkum?«
Sie nickt immer noch.
»Na klar«, sagt er.
»Wann?«
»Samstag.«
»Na klar.«
»Die erste Fähre von Ditzum.«
»Wann?«
»Um sechs.«
»Ja.«
Sie schaut ihm für drei Sekunden in die Augen, als müßte sie etwas überprüfen. Alsdann beugt sie sich vor, faßt ihn bei den Schultern und setzt ihm einen Kuß auf den Mund.
»Gute Nacht«, sagt sie, dann schiebt sie das Rad durch die Pforte und verschwindet im Schatten neben dem Haus. Sie scheint sich einer ungewissen Sache gewiß zu sein, denkt er, rennt mit dem Rad an der Seite aus dem Dorf, den Deich hinauf und erst oben auf der Deichkrone schwingt er sich auf den Sattel, tritt in die Pedale, als wären die versammelten Erscheinungen aller Rheiderländer Moore hinter ihm her, und erst zwischen Hatzum und Nendorp kommt er außer Atem halbwegs zur Besinnung, unterdrückt das unbegreifliche Glück wie einen Schluckauf und begreift erst in diesem Moment die Anspielung, die sich in ihrem Geburtstagsgeschenk verborgen hat: es ist ein Hinweis auf einen gewöhnlichen Fahrradlenker, auf dem sich zweierlei Hände zusammenfinden können, damit die kleinen Finger sich berühren.
Die südwestliche Ecke von Krummhörn ist nichts als ein grauer Streifen an Steuerbord, die Lichterspiele des Industrieparks am niederländischen Ufer, wo es das Dorf Heveskes für einige Jahrhunderte gegeben hat, bevor man es wegriß für einen Zweck, der ihnen eines Tages leid tun wird, wie er den Vater sagen hörte, sie sind nur verschwommenes Funkeln im Dunst. Das Leuchtfeuer von Delfzijl sucht man seit langem sowieso vergebens, so geht Fokko wieder unter Deck, wo Merreth in einem Kaffee rührt.
»Wie isses?« fragt
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