Die Uhr der Skythen (German Edition)
Straßenseite.
»Wie bist du denn in meine Wohnung, Fokko?«
Das hat er befürchtet. Evas kritischer Verstand ist immer an der Arbeit, auch mit einer Wunde am Kopf. Er will sich dem, was jetzt mit Sicherheit kommt, nicht aussetzen, holt die Uhr aus der Jackentasche, öffnet sie und nimmt ein paar Schritte Abstand. Er könnte sich nun mühelos entfernen, den Wagen einen Kilometer durch den stehenden Verkehr bugsieren, und wenn er die Uhr wieder schließt, glaubt Eva, sie hätte die Begegnung nur geträumt, eine kleine Absence in Folge des Sturzes. Bloß was mit Hinrich machen, der wie aus Bronze gegossen in einer Art ungewollter Nähe neben der fremden Frau steht und ein Gesicht zieht, als hätte er keine Lust, Teil einer Skulpturengruppe zu sein? Er müßte ihn in den Fischlaster wuchten. Das ist anstrengend und albern. Er läßt das Schlüsselbund in ihre Hosentasche gleiten und schließt die Uhr wieder.
»Hab geklingelt, Eva. Schwammheimer hat mir aufgemacht.«
Sie ist kein Stück verlegen.
»Na gut«, sagt sie nur, steckt die Hände in die Hosentaschen, daß es aussieht, als müßte sie sich gegen was behaupten. »Manchmal vermisse ich dich sogar, Fokko.«
Es ist wie ein Zipfel Wurst, den man dem Hund hinwirft, damit man ihn zu fassen kriegt, um ihn endgültig vom Hof zu jagen. Aber auf diese uralten Inszenierungen fällt er nicht mehr herein.
»Setz dich auf den Beifahrersitz«, sagt er zu Hinrich.
Der Freund verabschiedet sich mit einem Nicken und steigt in den Fischwagen.
Eva schaut ihm amüsiert hinterher.
»Granat«, fragt sie, »was ist das?«
»Krebse«, antwortet Fokko.
»Was ihr da oben nicht alles habt«, sagt sie versonnen, dann zieht sie die Schlüssel aus der Jeans. »Da ist er ja…!«
Sie schaut ihn auf ihre Art an.
»Du hättest nicht einfach so verschwinden sollen, Fokko!«
»Es tut mir nicht leid.«
»Wenn es dir leid tut«, sagt sie, »kannst du jederzeit zurück.«
Was sie nicht hören will, hört sie wohl tatsächlich nicht. Das war immer so.
»Hast du diese Uhr noch?« fragt sie, und ihre Hand bewegt sich unversehens auf seiner Hüfte, als wollte sie kurzerhand mit einer Leibesvisitation beginnen. Es reicht.
»Nein«, sagt er, zieht die Uhr aus der Tasche und klappt sie auf.
Sie regt sich nicht mehr, aber sie ist ihm sehr nahe. In ihren Augen ist noch ein gewisser Glanz zu sehen, eine Spur Spott, eine Spur Begehrlichkeit, und obschon er weiß, wie sehr sie in der Lage ist, ihre Gefühle zu steuern, so wenig ist er sich seiner jetzt sicher. Er löst sich von ihr. Den Impuls, ihr abermals einen Kuß auf die Wange zu geben, wehrt er ab, schenkt ihr einen letzten Blick, dann klettert er an das Steuer des Fischlasters, läßt den Motor an und tuckert in einem Bogen durch die kleinen Straßen des Katharinenviertels, wo ihm gottlob kein angewurzeltes Auto im Weg steht.
Bis zum Heger Tor schlängelt er sich durch den eingefrorenen Verkehr, das erste Stück auf dem Wall ist völlig frei, er kommt mit dem Laster ordentlich in Schwung, als er aber beim Rißmüllerplatz zwei Fahrzeuge nebeneinander vor der grünen Ampel stehen sieht, nimmt er rasch die Uhr vom Armaturenbrett und schließt sie.
Es funktioniert. Sofort gehören die beiden Wagen zum fließenden Verkehr und entfernen sich sogar, weil sie schneller sind als er, im selben Augenblick kommt aber von rechts aus den Büschen jemand vor den Wagen gerannt. Mit aller Kraft tritt Fokko auf die Bremse. Der Mann steht mit schreckensweit aufgerissenen Augen einen Meter vor dem Lastwagen, schüttelt den Kopf und entfernt sich zittrig. Hinrich sitzt käsebleich auf dem Beifahrersitz und starrt durch die Windschutzscheibe auf die Ampel.
»Bist du komplett verrückt?« fragt er schwach.
»Ein Selbstmörder!« ruft Fokko, »Springt mir einfach vor die Karre!«
Mit einem Ruck fährt er wieder an. Im Laderaum ist ein Poltern zu hören. Vermutlich sind eben Möbel, Bücher, Platten und die Kabeljaue rasant durcheinandergeflogen.
»Halt da mal an!« sagt Hinrich, zeigt auf den Parkstreifen vor der Dominikanerkirche und verbirgt das Gesicht für einen Moment in den Händen.
Sie steigen erst einmal aus. Fokko dreht sich mit zitternden Fingern eine Zigarette.
»Das war knapp«, sagt er. »So ein Idiot!«
»Der Idiot bist du!«
»Wieso?«
»Weil du während der Fahrt mit deiner blöden Uhr spielst! Für den armen Hund bist du aus dem Nichts gekommen. Er steht am Rand, wartet die beiden Wagen vor uns ab, guckt sicherheitshalber noch
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