Die Uhr der Skythen (German Edition)
schieben.
Draußen ist es frisch. Er schlägt den Kragen der Jacke hoch und steckt die Hände in die Taschen. Die Kälte bleibt also unter dem Stillstand. Wie die Dunkelheit. Wenn ihm jetzt die Uhr verloren ginge, bliebe es kalte Nacht, bis das Zauberding irgendwann abgelaufen wäre. Die wenigen Passanten, die ihm reglos begegnen, blieben auf unbestimmte Zeit in ihre diverse Vorstellungen von einem warmen Bett eingefroren, der Motorradfahrer, der sich vor dem Heger Tor eben in einen großen Bogen gelegt hat, würde für die nächsten Wochen die konzentrierte Balance halten, und dem Pärchen, das sich soeben an der Ecke Gildewart und Heger Straße leidenschaftlich küßt, wäre die Liebe tatsächlich ewig.
In der Kneipe ist reichlich Betrieb. Das sinnleere Geplauder, das selbstgefällige Gelächter, die unnachgiebige Hintergrundmusik, der Spektakel ist körperlich spürbar, wenngleich es doch totenstill ist. Das wollüstige Gedränge, die großspurigen Gebärden, die überzogene Mimik, die sich ständig zu spiegeln sucht, jede irrwitzige Bewegung kommt ihm nahe, wo sich überhaupt nichts rührt in diesem apokalyptischen Sittengemälde. Erst die Erstarrung veranschaulicht den Irrsinn dieses Treibens.
Er zwängt sich bis zur Theke vor, und sein erster Blick geht nach links in die Ecke neben dem Ofen. Der Majordomus ist unanwesend, Schwammheimer fehlt wegen unerklärlicher Unpäßlichkeiten, vielleicht fällt ihm nichts mehr ein, was er in sein Notizbuch eintragen könnte, vielleicht bekommt ihm der Genever nicht mehr, jedenfalls sitzt da, wo Fokko ihn gerade gestern zu sehen gehabt zu haben glaubt, ein bedeutend jüngerer Schönling mit langem, welligem Blondhaar und einem schwarzen Hut auf dem schwarzen Sofa, blättert in einer Zeitschrift und trinkt augenscheinlich Rotwein, so die Zeit nicht stillsteht. Ein wenig sieht er aus wie Schwammheimers regulärer Nachfolger.
Eva entdeckt er erst nach einer Weile hinter der Theke. Sie hat just die Kühlung geöffnet und bückt sich eben nach einer Flasche Wein. Ihr famoses Hinterteil ist im Weg, aber es gelingt ihm mit einem großen Schritt und einem diskreten Blick zur Seite, darüber hinweg zu kommen, und in der Küche findet Fokko ihre Jacke und ihre Tasche in dem Spind, in dem sie immer hängen. Den Autoschlüssel findet er, die Hausschlüssel nicht. Sie hat sie in der Hosentasche.
Es ist das, was man eine verfängliche Situation nennt.
Selbstverständlich kann er ihr ungeniert an den trainierten Leib gehen, schließlich schaut niemand zu, er könnte die Hose auch mitnehmen, um sie in ihrem Kleiderschrank akkurat auf einen Bügel zu hängen, aber das kommt ihm alles zu nahe. Es wäre gut, sich draußen in einer Ecke zu verstecken und die Zeit für eine kleine Weile weiterlaufen zu lassen, bis Eva den Wein gegriffen, die Kühlung geschlossen und sich wieder aufgerichtet hat, aber die Uhr liegt in der Adolfstraße auf der ersten Stufe zur zweiten Etage.
Er versucht es, indem er der körperlichen Nähe einen größtmöglichen inneren Abstand entgegensetzt, den er damit zum Ausdruck bringt, daß er den Kopf wegdreht, als wäre er übel verrenkt, um nicht auch noch zuzusehen, wonach seine Finger tasten. Die Schlüssel stecken in einer der vorderen Tasche der Jeans, wo Oberkörper und Bein gegeneinander beweglich sind, eine prekäre Gegend, die sich mit ihrer bückenden Bewegung geschlossen hat wie die Zangen eines Hummers. So hat es absolut keinen Sinn. Nun schaut er hin und lächelt. Es ist eine komische Situation und er beschließt, sie sportlich zu nehmen. Er stellt sich über sie, greift ihr wie einem Unfallopfer mit beiden Armen unter die Achseln, hebt sie an, dreht sie mit dem Rücken zur Theke und lehnt sie dagegen. Sie ist bemerkenswert leicht und beweglich. Er legt ihre Hände auf die Kante des Tresens, hebt ihren Kopf und hält sie mit dem rechten Arm umfangen, damit sie ihm nicht wegrutscht.
»Eva«, sagt er still, schaut ihr in die verständnislosen Augen, derweil seine linke Hand in ihre rechte Tasche gleitet und nach dem Schlüssel fingert. Es kommt ihm vor, als könnte sie jeden Moment aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen, als müßte er ihr nur noch ein Stück näher kommen, und der Zauber wäre aufgehoben oder vielmehr: als hätte er sie in die Zauberwelt herübergezogen.
»Es war nichts mit uns…«, flüstert er, zieht das Bund mit zwei Schlüsseln aus ihrer Hose und steckt es in seine Jackentasche. Dann gibt er ihr einen flüchtigen Kuß auf die
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