Die Uhr der Skythen (German Edition)
einmal die Straße rauf, alles frei, er läuft los und um ein Haar vor einen Fischlaster, der von sonstwo angerast kommt. Der wird den Rest der Nacht seinen Verstand zusammensuchen.«
Fokko steckt sich die Zigarette an.
»Das machst du nicht nochmal, mein Freund! Da wird man verrückt. Ich sitze im Wagen und glotze die verlassene Straße hoch, in der du mal gewohnt hast, und plötzlich bin ich ganz woanders, der Wagen ist flott unterwegs, fährt beinahe einen Ahnungslosen platt, und den bezeichnest du als Idioten!«
Er hat ja Recht, es war ausgesprochen leichtfertig.
»Das ist wie ein Filmriss. Das hält das Gehirn auf Dauer nicht aus. Binnen einer Sekunde wechselt das Bild, der Ort, die Bewegung. Man bekommt einen fürchterlichen Schrecken, und mir ist speiübel.«
Bleich ist er wirklich. Aber so viel an einem Stück geredet hat er lange nicht.
»Schmeiß das Scheißding unterwegs aus dem Fenster, es zerspringt in tausend Teile, und wir haben endlich Ruhe damit!«
Fokko holt die Zauberuhr aus der Jackentasche und wiegt sie in der Hand.
»Was, Fox, wenn dann alles stehen bleibt? Für immer?«
»Da merkt man nix von…«
»Ich schon.«
Hinrich schaut die Uhr an, als säße eine kambodschanische Giftkröte auf Fokkos Hand.
»Wir machen das anders«, sagt er. »Ich steige mit dem Ding auf den Kirchturm, Helene hat einen Schlüssel. Dann schmeiße ich es von da oben auf das Pflaster.«
»Ist dasselbe.«
»Du kannst ja unten stehen.«
Fokko schüttelt den Kopf.
»Blödsinn. Ich überleg mir was.«
Er nimmt einen letzten Zug aus der Zigarette und schnippst den Rest in einen Strauch.
»Wie spät?«
»Mitternacht gewesen.«
»Zeit genug«, sagt er und steckt die Uhr wieder ein.
»Ich fahre«, sagt Hinrich.
In der folgenden Woche zieht der Frühling mit anschaulichen Botschaften ins Rheiderland ein. Die Uferschnepfen sind mit warmer Luft aus dem Süden heimgekehrt, das Wasser der Ems hat sich über den Winter gereinigt, ein helllichter Glanz liegt über der Landschaft, als wäre es nach Monaten endlich wieder Tag geworden, und zum traditionellen Dorffest am zweiten Aprilwochenende blühen die Kirschbäume. Der Sonnabend ist ein ungewöhnlich schöner Tag. Die Sonne wärmt das Land und die Herzen der vielen Menschen, am Hafen herrscht ein fröhlicher Trubel mit einem alten Karussell, einem Schießstand, mit einem Bierzelt und einer Losbude, deren Besitzer den lieben langen Tag mit seiner schnoddrigen Mikrophonstimme die geschmacklosen Kostbarkeiten anpreist, die man bei ihm gewinnen kann.
Fokko hat alle Hände voll zu tun. Frau Smit hat ihm zu Mittag eine zweite Lieferung Fisch hinterhergeschickt, weil sie weiß, was an einem solchen Tag durch die Friteuse geht, die Leute stehen zeitweise in einer merkwürdig gewundenen Schlange an seiner Bude und zur Hälfte um das Karussell herum, um sich das Warten auf den Fisch zu verkürzen, indem sie erstaunt und vergnügt beobachten, wie sich erwachsene Menschen in offenen Wagen und auf hölzernen Pferden zu einer leiernden Musik im Kreise drehen lassen, ohne auch nur ein Gran ihrer dörflichen Würde zu verlieren.
Am späten Nachmittag ist es für eine Weile ruhiger geworden. Hinrich, der an diesem Tag mehr Menschen über die Ems fahren wird als in den Wintermonaten zusammen, hat just für anderthalb Stunden eine größere Pause. Er wird bis in die Nacht hinein auf dem Fluss unterwegs sein, die letzte Fähre soll heute erst um zwanzig nach zehn von Petkum nach Ditzum zurückkommen. Für eine halbe Stunde hat er sich nun in Fokkos Fischbude gestellt, damit der Freund Gelegenheit hat, mit Merreth über das Fest zu gehen.
Beim oberen Sieltor setzen sie sich auf ein von der Sonne gewärmtes Stück Mauer, lassen die Beine baumeln und schauen auf die Schiffe im Yachthafen.
»Wie lange wirst du heute machen?« fragt sie, nimmt seine Hand auf ihren Schoß und spielt mit dem keltischen Ring, als trüge sie ihn selbst am Finger.
»Keine Ahnung, je nachdem. Bestimmt bis neun.«
»Dann machen wir es uns gemütlich und feiern ein wenig, nicht wahr?«
»Was feiern?«
Sie legt seine Hand auf ihren Bauch, beugt sich zu ihm rüber und flüstert: »Das.«
Er begreift überhaupt nichts.
»Du meinst…?«
Sie aber ist schon von der Mauer gesprungen, reckt sich zu ihm hoch und gibt ihm einen Kuß auf die Wange.
»Heute Abend, mein Liebster!«
»Aber…?«
»Mußt los, Fokko! Ich schau mich noch ein wenig um, dann fahre ich nach Critzum. Am Abend komme ich an der Bude
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