Die Uhr der Skythen (German Edition)
Die Welt ist zu einem altmeisterlichen Panorama geworden, zu einem begehbaren Landschaftsgemälde, ein dreidimensionales Tableau, das der Wirklichkeit trügerisch nachgebildet ist und doch ohne jedes Leben, und ausgerechnet er, Fokko van Steen, ist nunmehr für alle Ewigkeit, bis zum Jüngsten Tag oder wenigstens so lange, bis die verwünschte Uhr abgelaufen sein mag, dazu verdammt, in diesem Stillleben herumzugespenstern.
Wenn sie überhaupt weiterläuft, da, wo sie jetzt liegt: im schlammigen, öligen Grund des Ditzumer Hafenbeckens, etwa dort, wo der diebische Dichter in einer Pose des Ertrinkens versteinert aus dem Wasser ragt wie ein verrückt gewordener Hering in Aspik.
Von der Todesnot jedenfalls wird er länger etwas haben. Dabei ist genau das geschehen, was sich der große Schwamm wohl schon damals ausgedacht hatte, vor dem Osnabrücker Bahnhof, als er mit der Uhr auf und davon war und sich im Kreuzgang versteckt hatte, als wäre für ihn irgend ein Segen drin. Nun wird er so lange in der Jauche des Hafens garen, wie Fokko als gottverlassener Wiedergänger durch die Welt irrt, und wenn auch nicht klar ist, ob er im Moment überhaupt etwas anderes spürt als eine gedankenkurze Störung des gewöhnlichen Bewußtseinsstroms, so wird er irgendwann den Rest seiner Panik auskosten dürfen, ehe er im Hafenbecken versinkt wie die Uhr.
Eigentlich muß Fokko versuchen, wie auch immer über das Wasser zur Fähre zu gelangen, einen der vier Rettungsringe zu schnappen, mit denen Fox sein Ruderhäuschen dekoriert hat, ihn dem Dichter unter die eingefrorenen Arme zu bugsieren und mit einem Tau an der Reling zu sichern. Dann könnte der Kapitän in der Sekunde der rückkehrenden Zeit den Dichterfürsten an Bord ziehen und vor einem unrühmlichen Ende retten.
Mit der Hand faßt er in das Wasser zu seinen Füßen. Es ist das nachgiebige Element, das er kennt. Rechts vom Anleger findet er zwischen den Pflasterklinkern einen flachen Stein, nimmt ihn auf, holt bedächtig aus und wirft ihn in einem hohen Bogen Richtung Fähre. Er landet unweit von Schwammheimer auf dem Wasser, springt noch einmal weiter, die zwei Spritzer treffen auch den Ertrinkenden, dann verschwindet der Stein und ist mutmaßlich versunken wie jeder andere.
Was ist das für ein Impuls, den er offenbar jedem Objekt geben kann, daß es sich auch unter dem Stillstand der Zeit normal verhält? Wahrscheinlich könnte er zum Romancier rausschwimmen, ihn mittels dieser magischen Fähigkeiten unter Wasser drücken und für den Rest der Literaturgeschichte auf Grund schicken. Es existieren jetzt zwei Welten.
Und ich bin Gott, denkt er. Wenigstens für den Rest der Zeit, den die Uhr benötigt, um abzulaufen: ein Tag, ein Jahr, sein Leben.
Wie ein bronzenes Denkmal für alle Fischerfrauen, die je vergeblich auf die Rückkehr ihrer Männer gewartet haben, steht Eva am Anleger, und die Furcht, die in den Augen glimmt, scheint echt zu sein, ist nun konserviert wie die Panik ihres schwimmunfähigen Geliebten. Ob sie sie jetzt erlebt? Wohl kaum, denn wenn die Menschen im Stillstand etwas erleben würden, müßte es sich irgend in die Erinnerung schreiben. Die unbestimmte Zeit, die nun in Gang gekommen ist, wird am Ende niemand erfahren haben, nur er, Fokko van Steen, wird ein Zeitalter der Stille, der Einsamkeit und Verzweiflung erinnern, ohne selbst sagen zu können, wie lange es gedauert haben mag.
Er tritt nahe an Eva heran. Es ist kein Atem zu spüren, sie ist zu keinem Wimpernschlag fähig. Eine dünne Haarsträhne hängt ihr über dem rechten Auge. Er pustet sie zur Seite, dann streicht er sie mit dem Finger behutsam hinter ihr Ohr. Das geht. Er umfängt sie mit den Armen, drückt sich an sie und setzt seinen Mund auf den ihren. Nichts geschieht. Er schiebt seine Zunge zwischen ihre Lippen und spürt, es ist wärmer in ihr, aber das, denkt er sogleich, ist wohl immer so.
Als er von ihr abläßt, schwankt sie nicht. Der Tonus, den sie im Moment des Stillstandes besessen hat, bleibt ihr. Der Kapitän gibt ein Zeichen mit dem Arm, ein junges Paar steht vor der Fischbude und schaut fragend oder erstaunt zu ihm her, um zu erfahren, was am Anleger geschieht. Eine alte Dame mit aschgrauen Haaren hat sich auf einem Holzpferd des Karussells zurückgelehnt und genießt die kreiselnde Bewegung, die es nicht mehr gibt, in der Ausgelassenheit des Mädchens, das sie vor sechzig oder siebzig Jahren gewesen sein mag.
Die Sonne glitzert vollkommen bewegungslos auf dem Wasser,
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