Die Uhr der Skythen (German Edition)
als wäre es eine Folie, die jemand über das Hafenbecken gelegt hat. Er könnte versuchen, nach der Uhr zu tauchen. Das Wasser verhält sich ihm gegenüber vollkommen normal, Schwammheimer hingegen steckt in einem Bassin mit Gelantine. Was also geschieht, wenn er sich ihm schwimmend nähert. Es muß, wie der falsche Freund schon einmal vermutet hat, eine Aura geben, ein Hoheitsgebiet, in dessen Grenzen Fokkos magischer Einfluß wirksam ist. Aber wo verläuft diese Grenze? Ist es eine Körperlänge oder betrifft es alle Binnengewässer nördlich der Mittelgebirge und die Deutsche Bucht, wenn er in den Ditzumer Hafen springt?
Zwei Schritte entfernt steht einer der eisernen Poller. Das Wasser umfängt ihn nicht etwa spiegelglatt, an seinen Flächen liegt vielmehr ein sanfte Dünung, die noch von der Fähre stammen mag. Fokko erzeugt mit den Fingern eine Wellenbewegung, die sich sofort über die eingefrorene Wasserlandschaft legt. Als er die Hand zurückzieht, kommt das Wasser zur Ruhe, noch ehe es sich ausgependelt hat, gefriert quasi in der Handschrift, die seine Finger hinterlassen haben. Ein rätselhaftes Phänomen. Aber eines, das wird ihm sogleich klar, was es unmöglich macht, dem in Seenot geratenen Dichter irgend nahe zu kommen, denn sobald die mystische Aura das Wasser um ihn herum verflüssigt, sackt er weg wie die Uhr.
Jenseits des Anlegers, vielleicht zwei, drei Schritte ins seichte Wasser hinein, verbirgt sich die Kante der Kaimauer, dahinter wird es tief, da hat einst ein Fischer Enno Boelsum und sein Fahrrad aus dem Becken gefischt, und wo Schwammheimer steckt, werden es an die fünf oder sechs Meter bis zum Grund sein. So tief kann Fokko nicht tauchen. Außerdem wird die Uhr ein gehöriges Stück im Modder versackt sein. Die findet niemand je wieder. Dem Dichter allerdings könnte es demnächst einfallen, sobald Hinrich ihn aus der Brühe gefischt hat, das halbe Hafenbecken ausbaggern zu lassen, um den Schatz der Skythen zu bergen. Aber das soll Fokkos Sorge nicht sein. Zunächst geschieht überhaupt nichts. Die Kraft der Uhr ist weiterhin wirksam, und er hat keine Ahnung, wie lange.
So hat sich am Ditzumer Hafen eine ewige Abendstimmung eingerichtet, das Dorffest wird ebensowenig enden wie die fröhliche Karussellfahrt der alten Dame, es werden die Tränen nicht versiegen, die ein Junge weint, der in dem Trubel seine Eltern verloren hat, und der Fisch in Fokkos Bude bleibt permanent frisch.
»Alles hat seine Zeit«, sagt Fokko leise, tätschelt Eva die Wange, schiebt sich durch das reglose Getümmel, durch das Sieltor und in Dünenbroeks Gasthaus. Dort betritt er eine bacchantische Szenerie, glaubt beinahe, das grandiose Sprachpalaver des Behauptens und Schwadronierens zu hören, müßte den Zigarrenrauch, den Bratfisch und das verschüttete Bier wittern, aber es ist totenstill, und nicht die geringste Geruchsspur kommt ihm nahe.
Auf der Theke steht ein Tablett mit einem halben Dutzend frisch gezapfter, großer Gläser Bier. Er legt ein Zweieurostück auf den Tresen und nimmt sich ein Glas. An einer Wand vor dem Windfang hängt neben alten Ditzumer Fotografien ein Kalender, der Freitag, den 8. April, vermeldet. Das war gestern. Fokko reißt das oberste Blatt ab: der 9. April wird nun wohl ein sehr langer Tag. Er steigt auf den Deich, setzt sich am vorderen Sieltor auf die Mauer, nimmt einen Schluck vom Bier und schaut über den Hafen. Im Vordergrund liegen ein paar Kutter, hinten weiter ist das Heck der Fähre zu erkennen, in der Gegend steckt ein Dichter im Wasser, und dahinter sieht er die Ems und ihr nördliches Ufer im rotgoldenen Abendlicht.
In der linken Hand hält er noch das Kalenderblatt vom gestrigen Tage. Auf der Rückseite findet er ein Rezept für eine friesische Heringssuppe und eine Weisheit des französischen Schriftstellers und Diplomaten Jean Giraudoux: Wer seinen Willen durchsetzen will, muß leise sprechen.
»Nicht nötig«, sagt Fokko leise, läßt das Blatt fallen und schaut ihm hinterher. Ohne jede Arabeske zu den Seiten, ohne jedes spielerische Zögern fällt es schnurgerade hinab und bleibt zu seinen Füßen liegen wie angeklebt.
Die Stille ist so herrlich wie unheimlich. Irgendwie wird er sich einrichten müssen in der verloren gegangenen Zeit, wird essen, trinken und schlafen müssen, sollte sich auf die eine oder andere Weise sinnvoll beschäftigen, aber was macht denn einen Sinn, wenn er hoffnungslos abgeschnitten ist von seiner eigenen Geschichte und der der
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