Die Uhr der Skythen (German Edition)
Verwirklichung desselben Plans. Sie trägt einen übergroßen Pullover, einen kurzen Rock und kunterbunt geringelte Leggins, ihr Körper strahlt eine Nachgiebigkeit aus, eine Verletzlichkeit, die sich in ihrem befangenen Blick wiederfindet, und Schwammheimer hat das gewiß längst erkannt.
»Ein gesegnetes neues Jahr«, spricht er und spendiert der Dame ein Schildkrötenlächeln, sparsam zwar, aber, wie Anna es beschreibt, komplett verschenkt.
»Ja«, sagt die Frau und nickt.
»Das Jahr beginnt mit Schnee. Das ist ein gutes Zeichen.«
»Wofür?« Ein mißtrauischer Funke glimmt in ihren Augen.
»Für das Jahr. Für die Zukunft.«
»Wer sagt das?«
Schwammheimer lächelt wieder.
»Es ist wie ein unbeschriebenes Blatt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Nein?«
Sie reibt sich weiter die Hände, ihr Blick fliegt davon, als wollte er absichtslos das Café und die Welt erkunden, zieht einen Bogen über die Theke in die Tiefe des Gastraumes, schwenkt über den Windfang zurück, verweilt aber nirgends, erst für eine Sekunde auf dem Stapel Zeitschriften am anderen Ende des Tisches, dann dahinter für einen langen Atemzug auf dem Bild des winterlichen Straßenidylls jenseits des Fensters. Er hält das aus. Ohne eine Bewegung der Abkehr. Seine Hände liegen ineinander, als hätten sie ein Leben lang nichts anderes getan, sein Kopf ist dem ihren zugeneigt, seine Augen suchen geduldig ihren Blick.
»Es steht schon etwas drauf«, sagt sie dann.
»Was Häßliches?« fragt Schwammheimer und betrachtet seine Finger.
Sie nickt.
»Es muß aber doch möglich sein«, sagt er, »Korrekturen vorzunehmen, etwas neu zu schreiben, anders auszudrücken. So früh im Jahr!«
Sie schüttelt den Kopf. Die Bewegung ist so heftig wie unbestimmt.
»Wenn ich mich darauf einlasse«, sagt sie, »schreibt es sich fort. Unweigerlich.«
»Unweigerlich?«
»Ja. Es schreibt sich ja nicht. Es gräbt sich ein.«
Eva stellt ein Tablett auf die Theke.
»Mein Name ist Jakob«, sagt er. Es klingt wie ein Vorschlag, aber sie lehnt ihn ab.
»Die heiße Schokolade ist da«, antwortet sie scheu, läßt noch einen letzten diffusen Blick über die Männer hinwegflattern und sucht sich drüben einen kleinen Tisch.
»Kennst du sie?« fragt Fokko.
»Bis eben nicht.«
»Was hat sie?«
»Kummer, Schmerz.« Er vollführt eine vage Bewegung mit der Hand. »Was weiß ich von dem, was in einem anderen Menschen ist? Was ich empfange, sind nicht mehr als diffuse Botschaften aus einem entfernten Planetensystem, Informationen, die nicht einmal in das gebunden sind, was wir uns unter Sprache vorstellen. Das sind Signale, von denen ich nur ahnen kann, das es welche sind, weil sie mich mit relativer Zuverlässigkeit erreichen, weil sie einer Regelhaftigkeit zu unterliegen scheinen, die wir als Grammatik begreifen wollen.«
Fokko schaut ihn mit großen Augen an.
»Ich dachte«, sagt er, »ich hätte schon einiges erfahren…«
»Nichts, was nicht ausschließlich deinem eigenen Kopf entsprungen ist. Nichts hast du erfahren, Fokko!«
»Kummer, Schmerz.«
Schwammheimer zeigt ein abschätziges Lächeln und fuchtelt mit dem Zeigefinger seiner alten Lehrerhand in der Gegend herum.
»Nichts als Einbildung. Das einzige, was sie gesagt hat, ist, daß schon etwas draufsteht, auf dem unbeschriebenen Papier des neuen Jahres.«
»Es steht immer was drauf. Das ändert sich doch nicht, weil…«
»Natürlich, weiß ich! Sehr wahrscheinlich steht schon in dem Moment was drauf, in dem wir eben aus dem Mutterleib gekrochen sind, eine genetische Basisinformation, wie im BIOS.«
»BIOS?«
»Das ist gewissermaßen das Stammhirn eines Computers. Basic Input Output System. Es sind Befehlsroutinen, ab Werk programmierte Strukturen, eine Grundausstattung, ohne die ein Rechner weniger intelligent und nützlich wäre als eine Taschenlampenbirne.«
»Wie ein Mensch atmen kann und saugen und verdauen, kaum daß er seit einer Minute das Licht der Welt erblickt.«
»Genau. Und ich glaube, daß seine Festplatte, die Großhirnrinde, in diesem Augenblick jenseits des geschützten BIOS nicht vollkommen unbeschrieben ist. Sie ist formatiert, es sind Strukturen vorhanden, in die sich Informationen ablegen können wie Bücher in ein Regal, aber noch jenseits aller Physiologie, jenseits der hormonalen Systemprogramme, der digitalen Reflexe und so weiter schätze ich, daß am ersten Tag unseres Lebens schon einiges in einem verborgenen Archiv, einem versteckten Verzeichnis aufgeschrieben
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